Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Papillon

Papillon

Titel: Papillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Charrière
Vom Netzwerk:
den Strick weg. Niemals hat ein Toter Zeit, tief hinunterzusinken. Er steigt an die Oberfläche, und die Haifische beginnen sich um die besten Bissen zu streiten. Die, die es gesehen haben, sagen, der Anblick, wie ein Mann aufgefressen wird, ist ungeheuer erregend, denn wenn die Haifische sehr zahlreich sind, gelingt es ihnen sogar, den eingewickelten Körper aus dem Wasser zu heben, und dann reißen sie die Mehlsäcke herunter und holen sich große Stücke von der Leiche.
    Ganz genau so geschieht es, wie ich es beschreibe, aber einer Sache konnte ich dabei nie auf den Grund kommen: Die Sträflinge behaupten ohne Ausnahme, daß das, was die Haifische an den Ort zieht, der Glockenton ist, der von der Kapelle ertönt, sobald es einen Toten gibt. Wenn man am Abend gegen sechs Uhr am Ende des Hafendammes steht, gibt es Tage, wo sich kein Haifisch zeigt. Sobald aber die Glocke der kleinen Kirche läutet, ist im Nu dieser Ort von Haifischen bevölkert, die den Toten erwarten. Es kann nichts anderes sein, was die seltsame Tatsache erklärt, daß sie zu jenem Ort und genau zu jener Stunde herbeiströmen. Hoffen wir, daß ich nicht auch einmal unter ähnlichen Bedingungen den Haifischen von Royale als Tagesmenü diene. Wenn sie mich lebend auf der Flucht zerfleischen, so geschieht es wenigstens, während ich meine Freiheit suche. Aber nach einem Tod in der Zelle, krepiert an einer Krankheit – das will ich nicht. Das darf nicht geschehen.
    Da ich dank der von meinen Freunden organisierten Versorgung immer satt bin, bleibe ich bei bester Gesundheit. Von sieben Uhr früh bis sechs Uhr abends gehe ich ohne Unterlaß. Daher ist die Eßschüssel am Abend, voll mit Hülsenfrüchten – Erbsen, Linsen, Bohnen – oder Reis, und gut geschmalzen, schnell ausgelöffelt. Ich esse immer mit Appetit. Das Herummarschieren tut mir gut. Es erzeugt eine gesunde Müdigkeit, und während ich gehe, gelingt es mir, meine Gedanken wegschweifen zu lassen. Gestern zum Beispiel habe ich den ganzen Tag in der Umgebung eines kleinen Ortes in Ardeche verbracht, der Favras heißt. Dort habe ich nach dem Tod meiner Mutter oft einige Wochen bei meiner Tante gewohnt, der Schwester meiner Mutter, Lehrerin in diesem Nest. Gestern also bin ich leibhaftig dort in den Kastanienwäldern herumgestrichen, habe Pilze gesammelt und gehört, wie mein kleiner Freund, der Schafhirte, seinem Schäferhund Befehle zugerufen hat, die dieser tadellos ausführte, um ein entlaufenes Schaf zurückzutreiben oder eine vorwitzige Ziege anzubellen. Und die kühle Frische der eisenhaltigen Quelle ist mir in den Mund gestiegen, und ich spürte das Kitzeln der winzigen Wasserperlen an meiner Nase.
    Eine so authentische Wahrnehmung aus einer Zeit, die mehr als fünfzehn Jahre zurückliegt, eine solche Fähigkeit, alles mit größter Eindringlichkeit wiederzuerleben, das ist nur in einer Zelle möglich, weitab von jedem Lärm, in einsamer Stille.
    Selbst die gelbe Farbe des Kleides meiner Tante sehe ich deutlich vor mir. Ich höre das Rauschen des Windes in den Kastanienbäumen, den leichten Knall, wenn eine Kastanie auf dem harten Boden aufschlägt, und den gedämpften Ton, wenn sie ins weiche Laub fällt. Ein riesiges Wildschwein ist aus den hohen Ginsterbüschen aufgetaucht und hat mir große Angst eingejagt, so daß ich weggerannt bin und in meinem Schrecken den Großteil der gesammelten Pilze verloren habe. Ja wirklich, ich habe (immer im Gehen) einen ganzen Tag mit meiner Tante und meinem kleinen Schafhirtenfreund Julien in Favras verbracht. Niemand kann mich daran hindern, mich in diesen wiederauflebenden Erinnerungen, so zarten, so zärtlichen, so klaren, so sauberen, zu ergehen und aus ihnen den Frieden zu schöpfen, der meiner gequälten Seele so nottut.
    Für die menschliche Gesellschaft befinde ich mich in einem der zahllosen Kerker der Menschenfresserin. In Wahrheit habe ich denen einen ganzen Tag gestohlen, habe ihn auf den Feldern von Favras verbracht, in Kastanienwäldern, ja ich habe sogar aus dem Gesundbrunnen, aus der Quelle der Weisheit getrunken.
    Nun sind schon sechs Monate vergangen. Ich hatte mir versprochen, nur in sechs Monaten zu rechnen, und ich habe mein Versprechen gehalten. Heute morgen habe ich die sechzehn auf fünfzehn verringert… Es bleiben nur mehr fünfzehnmal sechs Monate.
    Machen wir einen Strich: Es gab in diesen sechs Monaten keinen Zwischenfall. Immer die gleiche Nahrung, immer auch eine genügend große Portion, mit der mein Körper

Weitere Kostenlose Bücher