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Papillon

Papillon

Titel: Papillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Charrière
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ein Dutzend Stinkkäse von Geschworenen keineswegs auf eine solche Verantwortung vorbereitet ist und daß diese Leute viel zu leicht vom Charme der Anklage oder der Verteidigung – wer halt immer an diesem Gerichtstag die Szene beherrscht – beeindruckt werden; daß sie sich zu schnell von der einen oder von der anderen Seite, von der für den Angeklagten positiven oder negativen Seite beeinflussen lassen und, ohne recht zu wissen, wieso, hart oder milde urteilen.
    Das gilt auch für meine Familie. Aber meine Familie hat ja auch einen gewissen Grund, mir leicht böse zu sein, weil ich ihr zweifellos einige Unannehmlichkeiten bereitet habe. Ein einziger, mein Papa, mein armer Vater, der hat sich sicher nicht beklagt über das Kreuz, das ihm sein Sohn auf die Schulter gelegt hat, dessen bin ich sicher. Gewiß trägt er dieses schwere Kreuz, ohne seinen Sohn anzuklagen, ohne ihm etwas vorzuwerfen, und das noch dazu, obwohl er Lehrer ist, der die Gesetze zu respektieren hat und selbst lehrt, sie zu verstehen und anzunehmen. Ich bin sicher, daß er im Grunde seiner Seele ausruft: Ihr Lumpen, ihr habt mein Kind getötet, schlimmer noch, ihr habt es verurteilt, Stück für Stück zu sterben – mit fünfundzwanzig Jahren!« Wenn er wüßte, wo sein Kind jetzt ist und was man mit ihm macht, er wäre imstande, Anarchist zu werden.
    In dieser Nacht hat die Menschenfresserin mehr denn je ihren Namen verdient. Ich habe gehört, daß sich zwei aufgehängt haben und einer sich selbst erstickt hat, indem er sich in Mund und Nase Stoffetzen stopfte.
    Die Zelle 127 liegt in der Nähe der Stelle, wo die Wachtposten wechseln, und manchmal höre ich einige Gesprächsfetzen. Heute morgen zum Beispiel haben sie nicht leise genug gesprochen, daß ich es nicht gehört hätte – ausschließlich von den Zwischenfällen in der Nacht.
    Wiederum sind sechs Monate vorbei. Ich ziehe einen Strich und kritzle in das Holz einen schönen »Vierzehner«. Ich habe einen Nagel, den ich nur alle sechs Monate dazu verwende. So ziehe ich also den Strich, und um die Gesundheit steht’s immer noch gut und auch um meinen Gemütszustand. Dank meiner Reisen zu den Sternen hinauf kommt es sehr selten vor, daß ich in längere Krisen der Verzweiflung falle. Ich überwinde sie verhältnismäßig schnell und baue mir aus allen möglichen Steinen eine Himmelsleiter, die die bösen Gedanken vertreibt. Der Tod von Gelier hilft mir sehr, Sieger über solche kritische Anfälle zu bleiben.
    Ich sage mir: Ich lebe, lebe, ich bin lebend, und ich muß leben, leben, leben, um eines Tages in Freiheit zu leben, er, der meine Flucht verhindert hat, ist tot, er wird niemals frei sein, wie ich es eines Tages sein werde, das ist sicher. Bestimmt. Auf jeden Fall bin ich noch nicht alt, wenn ich hier mit achtunddreißig Jahren rauskomme, und die nächste Flucht, die wird gelingen.
    Eins, zwei, drei, vier, fünf – kehrt; eins, zwei, drei, vier, fünf – kehrt. Seit einigen Tagen sind meine Beine schwarz, und es tritt mir das Blut aus den Venen. Werde ich krank? Ich drücke den Daumen in mein Bein, und die Druckstelle bleibt sichtbar. Man könnte meinen, ich bin voll Wasser. Seit einer Woche kann ich nicht mehr zehn oder zwölf Stunden am Tag herumgehen, schon nach sechs Stunden bin ich sehr müde und muß mir die weiteren sechs Stunden schenken. Wenn ich mir die Zähne putze, kann ich sie nicht mehr mit dem Frotteehandtuch reiben, ohne Schmerzen zu haben und stark zu bluten. Gestern ist mir sogar ein einzelner Zahn ganz von selbst herausgefallen, das Zahnfleisch im Oberkiefer ist entzündet.
    Mit einer richtigen Sensation sind diese letzten sechs Monate zu Ende gegangen. Tatsächlich. Denn gestern hat man uns den Kopf rausstecken lassen, und ein Arzt ist vorbeigekommen, der jedem die Lippen hochhob. Und heute morgen, nach genau achtzehn Monaten, die ich in dieser Zelle verbrachte, wird die Tür geöffnet, und es heißt:
    »Kommen Sie heraus, stellen Sie sich gegen die Mauer und warten Sie.«
    Ich war der erste draußen neben der Tür, und es kamen noch siebzig Mann heraus. »Halb kehrt, links.« Ich bin der letzte der Kolonne, die sich ans andere Ende des Gebäudes begibt und auf den Hof hinausgeht.
    Es ist neun Uhr. Ein junger Doktorling im Khakihemd mit kurzen Ärmeln sitzt im Freien, hinter ihm steht ein kleiner Holztisch. Neben ihm zwei Sanitätssträflinge und ein Aufsehersanitäter. Alle, auch der Arzt, sind für mich Unbekannte. Zehn Gammler, ihre Muskete im

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