Papillon
richtig, ein Pariser, Francis la Passe, bestätigt uns, daß das alles Geschwätz ist. Es gab zwar einen Vergifteten, aber Francis’ Bruder, der im Spital arbeitet, hat ihm erklärt, daß es Selbstmord gewesen ist. Der Selbstmörder, ein berühmter Safeknacker, soll, wie es heißt, während des Krieges in französischen Diensten in der deutschen Gesandtschaft von Genf oder Lausanne eingebrochen haben, sehr wichtige Dokumente entwendet und sie an französische Agenten weitergegeben haben. Die französische Polizei hatte ihn eigens dazu aus dem Gefängnis geholt, wo er eine Strafe von fünf Jahren verbüßte. Und seit 1920 hatte er auf Grund von jährlich ein bis zwei Fischzügen ein ruhiges Leben. Jedesmal, sooft er verhaftet werden sollte, ging er zwecks einer kleinen Erpressung ins Deuxieme Bureau, das schnell für ihn intervenierte. Dieses Mal aber klappte es nicht, er bekam zwanzig Jahre und mußte mit uns fort. Um dem Konvoi zu entgehen, hatte er sich krank gestellt und war ins Spital gekommen. Eine Pille Zyankali hatte – nach Aussage des Bruders von Francis la Passe – der Sache ein Ende gemacht. Die Safes und das Deuxieme Bureau können ruhig schlafen.
Im Hof hört man eine Menge Geschichten, wahre und unwahre, und man lauscht ihnen, um sich die Zeit zu vertreiben.
Wegen der Stöpsel muß Dega mich begleiten, sooft ich auf die Toilette gehe. Er stellt sich vor mich und schützt mich vor allzu neugierigen Blicken. Ich trage immer noch zwei Röhrchen, denn Galgani wird immer kränker. Und merkwürdig: der Stöpsel, den ich als letzten einführe, kommt immer als zweiter heraus, der erste immer als erster. Wieso sie sich in meinem Bauch anders reihen, verstehe ich nicht, aber es ist so.
Gestern, beim Friseur, versuchte man Clousiot beim Rasieren zu ermorden. Zwei Messerstiche in die Herzgegend. Ein pures Wunder, daß er nicht tot ist. Ich erfuhr seine Geschichte von einem seiner Freunde.
Sie ist eigenartig, ich werde sie eines Tages erzählen. Es sollte eine Abrechnung sein. Der Mann, dem der Mord mißlang, starb sechs Jahre später in Cayenne an doppeltchromsaurem Kaliumoxyd, das man ihm ins Essen tat. Er litt entsetzliche Qualen. Der Krankenwärter, der dem Arzt bei der Öffnung des Leichnams assistierte, brachte uns ein zehn Zentimeter langes Stück seines Darmes, in dem sich siebzehn Löcher befanden. Zwei Monate danach wurde sein Mörder tot im Krankenbett aufgefunden. Erwürgt. Man hat nie erfahren, von wem.
Nun sind es zwölf Tage, daß wir uns in Saint-Martin-de-Rè befinden. Die Festung ist zum Bersten voll. Tag und Nacht machen die Posten auf dem Schutzwall die Runde. Zwischen zwei Brüdern ist im Duschraum ein Streit ausgebrochen; sie haben sich gerauft wie Hunde, und einer von ihnen wurde in unsere Zelle verlegt.
Er heißt André Baillard. Er kann nicht bestraft werden, heißt es, denn die Schuld trifft die Verwaltung: Die Wärter haben Befehl, die beiden Brüder unter keinen Umständen einander nahekommen zu lassen. Wenn man ihre Geschichte kennt, versteht man, warum.
André hatte eine Rentnerin ermordet, sein Bruder Emile versteckte das Geld. Emile wurde wegen Diebstahls verhaftet und bekam drei Jahre. Weil sein Bruder ihm kein Geld für Zigaretten schickt, verpfeift er ihn und packt aus, daß André die Alte ermordet hat und er, Emile, das Geld versteckt hält. Er will ihm daher auch nichts geben, sobald er wieder in Freiheit ist. Ein Mithäftling hat nichts Eiligeres zu tun, als das Gehörte dem Gefängnisdirektor zu hinterbringen. Es dauert nicht lange, da wird André verhaftet, und beide Brüder werden zum Tod verurteilt. In der Abteilung der zum Tode Verurteilten der Santé werden sie in zwei benachbarte Zellen gelegt. Beide machen ein Gesuch um Begnadigung. Emiles Gesuch wird angenommen, das von André wird abgelehnt. Aus Gründen der Menschlichkeit läßt man jedoch Emile in der Abteilung der zum Tode Verurteilten, und die beiden Brüder machen tagtäglich, mit den Ketten am Fuß, hintereinander ihren Spaziergang. Am sechsundvierzigsten Tag um halb fünf Uhr früh öffnet sich Andres Tür. Alles ist da: der Direktor, der Schriftführer, der Staatsanwalt, der seinen Kopf verlangte. Es ist der Tag der Hinrichtung. Doch in dem Augenblick, da der Direktor das Wort ergreifen will, kommt Andres Verteidiger angelaufen, gefolgt von einem zweiten Mann, der dem Staatsanwalt ein Schreiben überreicht. Alle ziehen sich auf den Gang zurück. Andres Kehle ist so gepreßt, daß er seinen Speichel
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