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Papillon

Papillon

Titel: Papillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Charrière
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nicht mehr hinunterbringt. Er kann es nicht glauben, noch nie wurde eine Hinrichtung in diesem Moment abgebrochen. Und doch war es so. Erst am nächsten Tag, nach Stunden der Angst, erfährt André von seinem Verteidiger, daß am Vorabend der Hinrichtung Präsident Doumer von Gorguloff ermordet wurde. Aber Doumer war nicht sofort tot. Der Verteidiger stand die ganze Nacht vor der Klinik Wache, nachdem er den Justizminister informiert hatte, daß er, wenn der Präsident vor der Zeit der Hinrichtung – halb fünf Uhr morgens – stürbe, den Aufschub der Hinrichtung verlangen würde. Doumer starb um vier Uhr zwei. Die Staatskanzlei zu verständigen und, gefolgt vom Überbringer des Aufschubbefehls, in ein Taxi zu springen nahm so viel Zeit in Anspruch, daß der Verteidiger drei Minuten zu spät kam, um zu verhindern, daß man die Tür zu Andres Zelle öffnete. Die Strafe wurde für beide Brüder in lebenslängliche Zwangsarbeit umgewandelt: Am Tag der Wahl des neuen Präsidenten hatte sich der Verteidiger nach Versailles begeben, um dem neu gewählten Albert Lebrun sein Gesuch um Begnadigung zu überreichen. Und noch nie hat ein Präsident die erste Begnadigung, um die er gebeten wurde, verweigert.
    »Lebrun unterschrieb«, erzählte Andre, »und so seht ihr mich hier, gesund und am Leben, unterwegs nach Guayana.« – Ich schaue ihn mir an, den der Guillotine Entrissenen, und sage mir, daß alles, was ich erdulden mußte, mit seinem Leidensweg nicht zu vergleichen ist.
    Dennoch verkehre ich nicht mit ihm. Das Bewußtsein, daß er eine arme alte Frau umgebracht hat, um sie zu berauben, bereitet mir Übelkeit. Übrigens war das Glück auf seiner Seite. Er tötete später, auf der Insel Saint-Joseph, seinen Bruder. Mehrere Sträflinge haben es gesehen. Emile fischte auf einem Felsen und dachte an nichts als an seine Fische. Der Lärm der Brandung übertönte jedes andere Geräusch. André ging von hinten mit einem drei Meter langen Bambusstock auf den Bruder zu, ein einziger kräftiger Stoß, und Emile verlor das Gleichgewicht. An dieser Stelle wimmelte das Meer von Haifischen … Beim abendlichen Appell, als man Emiles Abwesenheit bemerkte, trug man ihn als »auf der Flucht verschollen« ein. Man redete nicht mehr darüber. Nur vier oder fünf Sträflinge, die auf der Höhe Kokosnüsse sammelten, hatten den Vorfall mit angesehen. Selbstverständlich wußten es alle – bis auf die Aufseher. André Baillard wurde niemals damit belästigt.
    Wegen guter Führung wurde ihm eine Hafterleichterung gewährt, und er erfreute sich auf Saint-Laurent-du-Maroni eines angenehmen Lebens. Er hatte eine kleine Zelle für sich allein. Eines Tages geriet er mit einem anderen Sträfling in Streit. André lud ihn hinterhältig in seine Zelle und tötete ihn mit einem Messerstich genau ins Herz. Die Tat wurde als Notwehr qualifiziert und André freigesprochen. Nach der Entlassung aus dem Bagno wurde er wegen »guter Führung« begnadigt.
    Saint-Martin-de-Rè ist von Gefangenen überfüllt. Es gibt zwei Kategorien: achthundert bis tausend Bagnosträflinge und neunhundert Verbannte. Um Bagnosträfling zu sein, muß man ein schweres Verbrechen begangen haben oder zumindest eines solchen angeklagt sein. Die Mindeststrafe beträgt sieben Jahre Zwangsarbeit, die übrigen Strafen sind bis zu »Lebenslänglich« gestaffelt. Ein von der Todesstrafe Begnadigter wird automatisch zu »Lebenslänglich« verurteilt. Bei den Relegierten ist das anders. Ein Mann, der drei- bis siebenmal verurteilt worden ist, kann »relegiert«, das heißt für immer verbannt werden. Diese Leute sind zwar alle unverbesserliche Diebe, und man versteht, daß sich die Gesellschaft vor ihnen schützen muß, aber man schämt sich doch, daß ein zivilisiertes Volk eine solche zusätzliche Strafe nötig hat.
    Es gibt da kleine, ungeschickte Diebe, die mehrmals erwischt wurden und in ihrem ganzen Leben oft keine zehntausend Franc gestohlen haben. Sie zu verbannen, was zu meiner Zeit einer lebenslänglichen Verurteilung gleichkam, ist der größte Nonsens, den die französische Zivilisation hervorgebracht hat. Eine Nation hat weder das Recht, sich zu rächen, noch Leute, die der Gesellschaft zum Ärger gereichen, einfach auszustoßen. Es sind Menschen, denen man eher mehr Fürsorge angedeihen lassen müßte, als sie so unmenschlich zu bestrafen.
    Wir sind schon siebzehn Tage in Saint-Martin-de-Rè und wissen den Namen des Schiffes, das uns ins Bagno bringen wird. Die acht oder

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