Papillon
in eine Einzelzelle stecken und dir eine Zwangsjacke anlegen. Diese Behandlung kann nur eine gewisse Zeit dauern, dann muß sie eines Tages gemildert werden. Ergebnis: Welche Tat immer, inklusive Flucht, du brauchst nichts dafür zu bezahlen. Es wäre zu überlegen.«
»Ich vertraue dir, Papillon. Ich würde gerne mit dir flüchten. Setz alles dran, daß du zu den Geisteskranken hinaufkommst und wir uns dort treffen. Als Pfleger könnte ich dir helfen, daß du alles so gut wie möglich überstehst. Ich gebe zu, daß es für einen Gesunden schrecklich sein muß, sich mitten unter so gefährlichen Wesen zu befinden, aber …«
»Geh ins Asyl hinauf, Romeo, ich werde die Frage gründlich durchdenken und vor allem über die ersten Symptome einer Geisteskrankheit Erkundigungen einziehen, um den Doktor zu überzeugen. Gar keine so schlechte Idee, mich vom Arzt für unzurechnungsfähig erklären zu lassen.«
Ich beginne die Sache ernsthaft zu studieren. Leider gibt es kein diesbezügliches Buch in der Gefängnisbibliothek. Wann immer ich kann, spreche ich mit den Männern, die schon einmal mehr oder weniger lang geisteskrank gewesen sind. Nach und nach erwerbe ich mir eine recht gute Vorstellung davon: 1. Die Geisteskranken haben alle furchtbare Schmerzen im Hinterkopf. 2. Häufig kommt starkes Ohrensausen dazu. 3. Da sie sehr nervös sind, können sie nie lange in derselben Stellung schlafen, ohne von nervösen Muskelkrämpfen aufgeschreckt zu werden, die den ganzen ausgestreckten Körper schmerzhaft zusammenziehen.
Ich muß es also darauf anlegen, daß diese Symptome
entdeckt
werden, ohne daß ich selbst auf sie hinweise. Mein Wahnsinn muß gerade genug gefährlich sein, um den Arzt zu dem Entschluß zu bringen, mich ins Asyl zu stecken, darf aber nicht so heftig werden, um eine schlechte Behandlung von Seiten der Aufseher zu rechtfertigen: Zwangsjacke, Schläge, Nahrungsentzug, Bromspritzen, zu kalte oder zu heiße Bäder und so weiter. Wenn ich die Komödie gut spiele, muß es mir gelingen, den Arzt an der Nase herumzuführen. Etwas ist für mich günstig: Warum nämlich sollte ich ein Simulant sein? Der Arzt wird keine logische Antwort auf diese Frage finden, und es ist daher durchaus wahrscheinlich, daß ich die Partie gewinne. Außerdem gibt es keine andere Lösung für mich. Man hat abgelehnt, mich auf die Teufelsinsel zu schicken. Seit der Ermordung meines Freundes Matthieu kann ich das Lager aber nicht mehr ertragen. Zum Teufel mit dem Zögern! Es ist beschlossen. Montag gehe ich zum Arzt. Aber nein – ich darf mich ja nicht selber krank melden, das soll besser ein anderer tun, und zwar im guten Glauben. Ich muß mich zwei- oder dreimal vor dem ganzen Saal absonderlich benehmen, dann wird der Chef der Casa es einem Aufseher berichten, und der wird mich dann für eine Untersuchung vormerken.
Nun schlafe ich schon seit drei Tagen nicht mehr, wasche mich nicht und bin auch nicht mehr rasiert. Jede Nacht onaniere ich einige Male und esse sehr wenig. Gestern fragte ich meinen Nachbarn, warum er eine Photographie von meinem Platz genommen habe (die niemals existierte). Er schwor bei allen Göttern, nichts von meinen Sachen angerührt zu haben. Er war beunruhigt und wechselte die Hängematte. Oft bleibt die Suppe ein paar Minuten im Kessel stehen, bevor sie ausgeteilt wird. Eben bin ich zu dem Kessel hingegangen und habe vor aller Augen hineingepißt. Das hätte alle empört, wenn nicht mein Gesichtsausdruck dabei so gewesen wäre, daß die Männer verstummten und nur mein Freund Grandet leise zu mir sagte: »Papi, warum hast du das getan?«
»Weil man vergessen hat, die Suppe zu salzen.« Und ohne auf die anderen zu achten, holte ich meinen Eßnapf und reichte ihn dem Chef der Casa, damit er mir einschenkt.
Schweigend schauen mir alle zu, wie ich meine Suppe löffle.
Diese beiden Vorfälle genügten, daß ich mich heute morgen beim Arzt einfinden mußte, ohne darum gebeten zu haben.
»Na, wie geht’s, Toubib, ja oder nein?«
Der Doktor blickt mich verblüfft an. Ich wiederhole meine Frage und mache dabei ganz bewußt eine völlig natürliche, gelöste Miene.
»Oh – es geht«, sagt der Toubib, »und du, bist du krank?«
»Nein.«
»Warum bist du dann zur Untersuchung gekommen?«
»Wegen nichts. Man sagte mir,
Sie
seien krank. Es freut mich, zu sehen, daß es nicht wahr ist. Auf Wiedersehen!«
»Wart einen Augenblick, Papillon. Setz dich dahin, mir gegenüber. Schau mich an.« Und er prüft meine
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