Papillon
diese nackte Männerherde, sehe sie singen, weinen, unkontrollierte Bewegungen machen, mit sich selbst reden, noch ganz naß von der Dusche, die jeder nimmt, bevor er in den Hof hinausgeht. Ihre armen Körper sind von Schlägen gezeichnet, die sie erhalten oder sich selbst beibringen, von den Striemen der Zwangsjacke, in die sie zu fest eingeschnürt wurden. Es ist wirklich ein Anblick der letzten Etappe auf dem Weg zur Verwesung. Wie viele von denen wurden wohl von den Psychiatern in Frankreich für voll verantwortlich erklärt?
Titin – so nennen ihn hier alle – war in meiner Gruppe 1933. Er hat in Marseille einen Kerl getötet, dann nahm er eine Kutsche, verfrachtete sein Opfer hinein und ließ sich zum Spital führen, wo er bei seiner Ankunft sagte: »Hier nehmen Sie den auf, pflegen Sie ihn gut, ich glaube, er ist krank.« Er wurde auf der Stelle verhaftet, und die Geschworenen hatten die Stirn, ihm nicht den geringsten Grad von Unzurechnungsfähigkeit zuzubilligen. Immerhin mußte er doch schon beklopft gewesen sein, um so ein Ding überhaupt zu unternehmen. Der größte Idiot mußte normalerweise wissen, daß er bei einer solchen Sache eingeht. Nun ist er da, der Titin, und sitzt an meiner Seite. Er hat chronisches Abführen. Er ist ein lebender Leichnam. Er sieht mich mit seinen eisengrauen Augen an, die keinerlei Ausdruck von Intelligenz aufweisen.
Er sagt mir: »Ich habe kleine Affen in meinem Bauch, Landsmann, es gibt sehr böse darunter, die beißen mich in die Gedärme, wenn sie wütend sind, und darum lasse ich soviel Blut. Andere sind von einer behaarten Rasse, mit ganz weichem Fell, und ihre Pfoten streicheln mich sanft wie eine Feder. Sie verhindern, daß die bösen mich beißen. Wenn diese zarten, kleinen Affen mich gut verteidigen, dann lasse ich kein Blut.«
»Erinnerst du dich an Marseille, Titin?«
»Und ob ich mich an Marseille erinnere. Sehr gut sogar. Der Börsenplatz, wo die großen Kanonen herumstehen…«
»Kannst du dich an einige Namen erinnern? An den ›Silbernen Engel‹? An Gravat? Clement?«
»Nein, ich erinnere mich an keine Namen, nur an einen Dummkopf von Kutscher, der mich mit meinem kranken Freund zum Spital führte und mir gesagt hat, daß ich die Ursache seiner Krankheit war. Das ist alles.«
»Und deine Freunde?«
»Kenn ich nicht.«
Armer Titin! Ich gebe ihm meinen Zigarrenstummel und stehe auf, tiefes Mitleid im Herzen für dieses arme Wesen, das da wie ein Hund krepieren wird … Ja, es ist wirklich gefährlich, mit Verrückten zusammenzuleben, aber was soll ich tun? Auf jeden Fall ist es die einzige Möglichkeit, glaube ich, eine Flucht steigen zu lassen, ohne Risiko, die Todesstrafe zu riskieren.
Salvidia ist fast fertig. Er hat schon zwei Schlüssel, es fehlt nur noch der von meiner Zelle. Er hat sich einen sehr guten Strick verschafft, und außerdem hat er noch einen aus Stoffetzen von unseren Hängematten gemacht, der, so sagt er mir, fünffach zusammengedreht ist. Von der Seite geht also alles gut.
Ich möchte schnell zur Aktion übergehen, denn es ist wirklich nicht leicht, dieses Komödienspiel so lang durchzustehen. Um in diesem Teil des Asyls zu bleiben, wo sich meine Zelle befindet, muß ich von Zeit zu Zeit eine Krisis inszenieren. Eine habe ich so gut gespielt, daß die Hilfspfleger mich in ein sehr heißes Bad gesteckt und mir zwei Brominjektionen verpaßt haben. Die Badewanne ist mit einem sehr festen Tuch bedeckt, so daß ich nicht heraussteigen kann. Nur mein Kopf ragt durch ein Loch heraus. Nun sitze ich schon mehr als zwei Stunden in diesem Ding, das eine Art Zwangsjacke ist, als plötzlich Ivanhoe eintritt. Ich erschrecke beim Anblick dieses Gewalttäters. Die Art, wie er mich anschaut, jagt mir die Angst ein, er könnte mich erwürgen. Ich kann mich nicht einmal verteidigen, mit meinen Händen unter dem Tuch.
Er kommt näher zu mir heran, seine großen Augen betrachten mich aufmerksam, als suchte er sich zu erinnern, wo er diesen Kopf da, der wie aus einem Halseisen hervorragt, schon einmal gesehen hat. Sein Atem, voll mit Fäulnisgeruch, streicht über mein Gesicht. Ich möchte um Hilfe schreien, aber ich habe Angst, ihn dadurch wütend zu machen. Ich schließe die Augen und warte, überzeugt, daß er mich gleich mit seinen riesigen Händen erwürgen wird. Diese wenigen Sekunden in Angst und Schrecken werde ich nicht so bald vergessen. Schließlich wendet er sich von mir ab und macht sich an die Wasserhähne des Baderaumes heran. Er
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