Papillon
starke Schmerzen hat und ob wir wünschen, daß die Polizei morgen oder einen Tag später verständigt werde. Ob wir Eltern, Frauen oder Kinder haben; ob wir ihnen zu schreiben wünschen, man würde unsere Briefe zur Post bringen … Was soll ich sagen? Ein außergewöhnlicher Empfang, sowohl von dem Volk an der Küste als auch von dieser Familie, die unbeschreiblich aufmerksam gegen uns drei Entsprungene ist.
Master Bowen ruft einen Arzt an, und der Arzt bittet ihn, den Verletzten am nächsten Nachmittag in die Klinik zu bringen, wo man eine Röntgenaufnahme machen will, um zu sehen, was zu tun ist. Master Bowen telephoniert mit dem Kommandanten der Heilsarmee in Port of Spain, und der Kommandant verspricht, uns ein Zimmer in einem Hotel der Heilsarmee zu reservieren. Wir können kommen, wann wir wollen, und wir sollen auf unser Boot gut achtgeben, da wir es ja für die Weiterreise brauchen. Er erkundigt sich, ob wir Bagnosträflinge oder Verbannte seien. Bagnosträflingle antwortet der Advokat. Es scheint ihm Spaß zu machen, daß wir Bagnosträflinge sind.
»Wollen Sie ein Bad nehmen und sich rasieren?« fragt mich das junge Mädchen. »Lehnen Sie nicht ab, es stört uns in keiner Weise. Im Bad finden Sie Kleidungsstücke, die Ihnen passen werden.« Ich gehe ins Badezimmer, steige in die Wanne, rasiere mich und verlasse das Bad in grauer Hose, weißem Hemd, Tennisschuhen und weißen Socken.
Ein Indio klopft an die Tür. Er hat ein Paket unter dem Arm und überreicht es Maturette mit den Worten, der Doktor habe bemerkt, daß ich mehr oder weniger seine Figur habe, daß aber Maturette nichts finden würde, da niemand im Haus von so kleiner Statur sei wie er. Er verbeugt sich vor uns wie ein Muselmann und geht wieder. Was soll man zu so viel Güte sagen? Das Gefühl, das mein Herz erfüllt, ist nicht zu beschreiben.
Clousiot wird als erster schlafen gelegt. Wir fünf tauschen dann noch über verschiedenes eine Menge Gedanken aus. Was die liebenswürdige Dame am meisten beschäftigt, ist die Frage, was wir für unsere weitere Existenz zu tun gedächten. Kein Wort über Vergangenes, nur der Augenblick beschäftigt sie. Master Bowen bedauert, daß Trinidad Entsprungenen keine Genehmigung gebe, sich auf der Insel niederzulassen.
Er habe, erklärt er mir, schon in mehreren Fällen Ansuchen gestellt, sie seien aber immer wieder abschlägig beschieden worden.
Die junge Tochter spricht dasselbe reine Französisch wie ihr Vater, akzentfrei und fehlerlos. Sie ist blond, voller Sommersprossen und etwa zwischen siebzehn und zwanzig. Sie nach ihrem genauen Alter zu fragen, wage ich nicht.
»Sie sind jung und haben das ganze Leben vor sich«, meint sie. »Ich weiß nicht, was Sie angestellt haben, und ich will es auch nicht wissen. Aber daß Sie den Mut haben, in einem so kleinen Boot auf See zu gehen und eine so lange, gefährliche Reise zu unternehmen, beweist, daß Sie bereit sind, für Ihre Freiheit einen hohen Preis zu zahlen, und das will was heißen.«
Wir haben bis acht Uhr früh geschlafen. Beim Aufstehen finden wir den Tisch gedeckt. Die beiden Damen teilen uns auf das natürlichste mit, daß Master Bowen nach Port of Spain gefahren ist und erst am Nachmittag mit den nötigen Ratschlägen, was am besten zu tun sei, zurückkommen wird.
Dieser Mann, der sein Haus, in welchem sich drei entsprungene Sträflinge befinden, seelenruhig verläßt, sagt uns damit etwas, was er mit Worten niemals so eindringlich und so eindrucksvoll zu sagen vermöchte: Ihr seid normale Menschen. Ich habe Vertrauen zu euch, also lasse ich euch schon zwölf Stunden nach unserer Bekanntschaft ohne weiteres mit meiner Frau und meiner Tochter allein. Nachdem ich mich mit euch dreien unterhalten habe, weiß ich, daß ihr weder mit Worten noch mit Taten schlecht gegen mich handeln werdet. Ich lasse euch bei meiner Familie, als ob ihr alte Freunde wäret. – Wir sind alle drei bewegt.
Ich bin kein Intellektueller. Ich kann dem Leser – falls diese Hefte eines Tages Leser finden sollten – unsere Aufregung, das Gefühl von Selbstachtung, nein, von Rehabilitierung, von neugewonnenem Leben nicht so kunstgerecht und mit dem gehörigen literarischen Animo schildern, auch wenn ich das noch so gerne möchte. Aber diese imaginäre Taufe, dieses Bad der Reinheit, dieses Endlich-wieder-herausgehoben-Werden aus dem Sumpf, in den ich geraten war, die ganze Art und Weise, in der man uns hier hilft, damit wir gegenüber dem Heute und dem Morgen wieder
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