Papillon
verwende ich den Kompaß. Am Morgen des sechsten Tages begrüßt uns herrlicher Sonnenschein, das Meer liegt auf einmal ganz still, fliegende Fische schwirren nahe an uns vorbei. Ich bin so müde, daß ich fast zusammenbreche. In der Nacht darauf muß mir Maturette mit einem in Meerwasser getränkten Tuch über das Gesicht fahren, damit ich nicht einschlafe. Ich beginne trotzdem zu schlafen. Clousiot brennt mich mit seiner Zigarette. Umsonst. Da die See ruhig ist, beschließe ich, mich niederzulegen. Wir streichen Hauptsegel und Fock, behalten nur den Klüver, und ich schlafe, schlafe wie ein Sack auf dem Boden des Bootes. Erst als Maturette mich schüttelt, erwache ich.
»Es ist Mittag oder ein Uhr, aber ich wecke dich, weil der Wind auffrischt«, sagt er, »und auf der Seite, woher er kommt, ist es ganz schwarz.«
Ich erhebe mich und nehme meinen Platz wieder ein. Faltenlos gespannt tragen uns der Klüver und das Focksegel, das die beiden wieder gesetzt haben, dahin. Hinter mir, im Westen, ist der Himmel wie Blei und Tinte. Der Wind frischt immer mehr auf, Klüver und Fock genügen für volle Fahrt. Ich lasse das Hauptsegel um den Mast gerollt.
»Haltet die Ohren steif«, sage ich, »es kommt ein Unwetter.«
Große Tropfen beginnen zu fallen. Die Wolken kommen mit beängstigender Schnelligkeit näher, in einer knappen Viertelstunde stehen sie über uns, nachtschwarz. Es ist soweit. Ein Sturm von ungewöhnlicher Heftigkeit bricht los. Wie durch Zauberei geweckt, bilden sich Wogen. Die Sonne ist völlig verschwunden, es regnet in Strömen, man sieht kaum ein paar Meter weit. Die Wogen, alle schaumgekrönt, schlagen gegen die Bootswände und peitschen mir das beißende Salzwasser ins Gesicht. Der Sturm, es ist unser erster, kommt mit der ganzen Gewalt der entfesselten Natur über uns. Donner, Blitze, Regen. Tobende Wogen und ein durchdringendes Geheul hüllen uns ein.
Das Boot tanzt wie eine Nußschale auf dem Wasser, erklettert unfaßbare Höhen und fällt in Abgründe, aus denen man nie wieder herauszukommen glaubt. Aber es taucht doch immer wieder auf, erklettert den nächsten Kamm, steigt und fällt. Ich packe die Ruderpinne mit beiden Händen, weil ich meine, daß es besser sei, einer besonders hohen Woge, die ich daherkommen sehe, etwas Widerstand entgegenzusetzen – und schöpfe im selben Augenblick, wo ich sie, wahrscheinlich viel zu rasch, schneiden möchte, eine Menge Wasser. Das ganze Boot ist überschwemmt. Nervös, ganz gegen meine Art, stemme ich mich quer gegen eine äußerst gefährliche Woge – und unser Boot, das fast am Umkippen ist, schüttet von selber einen großen Teil des geschöpften Wassers wieder aus.
»Bravo!« brüllt Clousiot. »Du verstehst dein Handwerk!«
Wenn er geahnt hätte, daß ich in meiner Unerfahrenheit das Boot beinahe zum Kentern gebracht habe! Ich beschließe, nicht mehr gegen die Wogen anzukämpfen, nicht mehr auf die Richtung zu achten, sondern das Boot einfach, so gut es geht, im Gleichgewicht zu halten. Ich schneide die Wogen möglichst flach an, steige mit ihnen und lasse mich mit ihnen fallen. Ich habe eine wichtige Entdeckung gemacht. Lebenswichtig!
Der Regen läßt nach, der Sturm tobt noch immer, aber ich kann jetzt wenigstens weiter sehen. Hinter mir klart es bereits auf, vor mir bleibt es noch schwarz.
Gegen fünf Uhr ist alles vorüber. Die Sonne strahlt wieder vom Himmel, der Wind ist normal, die Wogen sind weniger hoch. Ich hisse das Hauptsegel, und sehr mit uns zufrieden, setzen wir die Reise fort. Mit Kochgeschirren schöpfen die beiden das restliche Wasser heraus, hängen die Decken an den Mast, im Wind trocknen sie rasch, und dann essen wir Reis, trinken doppelt starken Kaffee und einen guten Schluck Rum.
Die untergehende Sonne verschwendet ihr ganzes Feuer – ein unvergeßliches Bild: Der Himmel tief rotbraun, lange gelbe Flammenzungen durchschneiden ihn, ein paar weiße Wolken ziehen, und auch das Blau des Meeres ist überall von gelben Flammen durchzüngelt. Die steigenden Wogen sind unten blau, oben grün, und die Schaumkämme färben sich je nach dem Einfallswinkel der Sonne bald rot, bald rosa, bald wieder gelb.
Ein seltenes Gefühl von Frieden überkommt mich, und damit das Bewußtsein, daß ich Vertrauen zu mir haben darf. Ich habe mich gut gehalten, der kurze Sturm ist sehr lehrreich für mich gewesen. Ganz allein habe ich herausbekommen, wie man ein Schiff in einem solchen Fall manövrieren muß. Ich sehe der Nacht gelassen
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