Papillon
fahren wir mit dem Wagen, dessen Volant sich auf der rechten Seite befindet.
Um dreiviertel sechs fahren wir bei der Klinik vor, sie heißt Saint George. Krankenpfleger bringen Clousiot auf einer Bahre in einen Saal, in dem ein Indio auf seinem Bett sitzt. Der Arzt kommt herein und drückt Master Bowen die Hand, dann uns. Er spricht nicht französisch. Er läßt uns verdolmetschen, daß Clousiot gut versorgt sei und wir ihn besuchen könnten, wann wir wollten. In Bowens Wagen durchqueren wir die Stadt. Wir sind entzückt von den vielen Lichtern, den Autos, den Fahrrädern. Weiße, Schwarze, Gelbe, Indios und Kulis mischen sich auf den Gehsteigen der fast ganz aus Holz gebauten Stadt. Auch das Hotel der Heilsarmee ist nur im Parterre aus Stein, alles übrige ist aus Holz. Es liegt an einem, hellerleuchteten Platz, dem Fish Market, wie ich lese. Der Hauptmann der Heilsarmee empfängt uns mit seinem ganzen Stab, Männern und Frauen. Er spricht etwas Französisch, die andern reden uns englisch an. Wir verstehen sie nicht, doch ihre Gesichter sind so freundlich, ihre Blicke so entgegenkommend, daß wir überzeugt sind, daß sie uns etwas Nettes sagen.
Man führt uns in ein Zimmer im zweiten Stock. Es hat drei Betten – das dritte ist für Clousiot vorgesehen –, dazu ein Bad mit Seife und Handtüchern, die uns zur Verfügung stehen. »Falls Sie speisen wollen, das gemeinsame Abendessen findet um sieben Uhr statt – in einer halben Stunde.«
»Nein, danke, wir haben keinen Hunger.«
»Wenn Sie in die Stadt gehen wollen, hier sind zwei Dollar für Kaffee, Tee oder Eis. Verirren Sie sich nicht!
Wenn Sie den Rückweg nicht finden, dann fragen Sie nur: ›Salvation Army, please?‹«
Zehn Minuten später sind wir unten, bummeln den Gehsteig entlang, drängen uns unter die Leute. Niemand beachtet uns. Wir atmen tief auf, kosten das Gefühl der ersten freien Schritte in einer Stadt aus. Das Vertrauen, das man uns entgegenbringt – man läßt uns in einer so großen Stadt unbewacht umhergehen –, stärkt uns, gibt uns Selbstvertrauen, und dazu noch das Bewußtsein, daß es unmöglich ist, von diesen Menschen enttäuscht zu werden. Maturette und ich gehen langsam durch das Gedränge. Wir haben das tiefe Bedürfnis, dicht neben den Menschen herzugehen, gedrängt, gestoßen zu werden, uns ihnen anzupassen – dazuzugehören! Wir betreten eine Bar und bestellen Bier. Es ist gar nichts dabei, »Two beers, please«, zu sagen. Trotzdem kommt es uns unwirklich vor, als das indische Mädchen mit dem Goldring in der Nase, nachdem es uns bedient hat, »Half a Dollar, Sir«, sagt. Ihre perlschimmernden Zähne, die großen schwarzvioletten Augen, die ein ganz klein wenig geschlitzt sind, das rabenschwarze Haar, das ihr bis auf die Schultern fällt, das halboffene Mieder, das den Ansatz ihrer Brüste zeigt und deren Schönheit ahnen läßt – Kleinigkeiten, die allen anderen Menschen selbstverständlich sind, kommen uns märchenhaft, phantastisch vor. Das ist nicht wahr, Papi, das kann gar nicht wahr sein, daß du dich so schnell aus einem lebenden Toten, aus einem lebenslänglichen Bagnosträfling in einen freien Menschen verwandelt hast!
Maturette war es, der gezahlt hat. Es ist ihm nur noch ein halber Dollar geblieben. Das Bier ist köstlich frisch.
»Trinken wir noch eins?« fragt er.
Diese zweite Runde scheint mir zuviel. »Es ist kaum eine Stunde her, daß du wirklich frei bist, und schon denkst du daran, dich zu besaufen?«
»Aber ich bitte dich, Papi, übertreibe nicht! Zwischen zwei Bieren und sich besaufen ist noch ein Unterschied.«
»Vielleicht hast du recht, aber ich finde, man soll sich nicht zu schnell und zu gierig in die Vergnügungen stürzen, die sich uns bieten. Man sollte lieber erst nach und nach wieder von ihnen kosten. Außerdem ist das nicht unser Geld.«
»Ja, das ist wahr. Wir werden erst tropfenweise lernen müssen, frei zu sein. Dann ist man der Sache besser gewachsen.«
Wir verlassen die Bar und gehen die große Watters Street hinunter, eine Hauptstraße, die quer durch die ganze Stadt läuft. Wir bestaunen die Straßenbahnen, die Esel mit ihren kleinen Wägelchen, die Autos, die funkelnden Lichtreklamen der Bars und Kinos, staunen über die Augen der jungen Schwarzen und der Indiofrauen, die uns lachend mustern, und befinden uns auf einmal, ohne daß wir es beabsichtigt hatten, am Hafen. Die Schiffe vor uns sind beleuchtet. Da liegen Passagierdampfer mit verlockenden Namen:
»Panama«,
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