Papillon
englischen Worten, die uns freundlich entgegenkommend dünken, reicht sie uns den Zimmerschlüssel und wünscht uns eine gute Nacht. Wir legen uns nieder. In dem Koffer habe ich auch einen Pyjama gefunden. Beim Lichtauslöschen sagt Maturette: »Immerhin könnten wir dem lieben Gott dafür danken, daß er uns in so kurzer Zeit so viel gegeben hat. Meinst du nicht, Papi?«
»Danke du ihm für mich, deinem lieben Gott, er ist ein großartiger Bursche. Und er hat sich wirklich enorm großmütig gegen uns benommen. Gute Nacht!« Dann machte ich das Licht aus.
Aber diese Auferstehung, diese Wiederkehr aus dem Grab, aus dem Friedhof, in dem ich begraben war, die vielen verwirrenden Empfindungen, das Bad dieser Nacht, das mich unter all den anderen Geschöpfen wieder ins Leben führte, haben mich so aufgeregt, daß ich nicht einschlafen kann. An meinen geschlossenen Lidern ziehen die Bilder, die Dinge, das ganze Gewoge der Empfindungen ohne geordnete Reihenfolge vorüber. Präzise, aber ohne jeden Zusammenhang. Die Geschworenen, die Conciergerie, die Leprakranken, Saint-Martin-de-Rè, Tribouillard, Jesus, der Gewittersturm… ein gespenstischer Tanz. Fast möchte ich sagen, daß alles, was ich seit einem Jahr erlebt hatte, in der Galerie meiner Erinnerungen gleichzeitig auftauchte. Ich habe wohl versucht, die einzelnen Bilder festzuhalten, doch es gelang mir nicht, und das drolligste war, daß sie sich mit dem Quieken von Schweinen, dem Krähen des Hocco, dem Heulen des Windes und dem Brechen der Wogen vermischten, eingehüllt von der Musik der einsaitigen Baßgeigen, die uns, von Indios gespielt, immer wieder sekundenlang aus den verschiedenen Bars entgegen klangen, an denen wir vorüberkamen. Endlich, bei Tagesanbruch, schlief ich ein.
Gegen zehn Uhr klopft es an unsere Tür. Es ist Master Bowen. »Guten Morgen, Freunde«, sagt er lächelnd.
»Noch im Bett? Sie sind spät heimgekommen. Haben Sie sich gut unterhalten?«
»Guten Morgen. Ja, wir sind spät heimgekommen, verzeihen Sie.«
»Aber nein, das ist doch ganz natürlich nach allem, was Sie durchgemacht haben. Sie mußten doch etwas haben von dieser ersten Nacht als freie Menschen. Ich komme, um Sie auf die Polizei zu begleiten. Sie müssen dort eine offizielle Erklärung abgeben, daß Sie heimlich ins Land gekommen sind. Nach dieser Formalität werden wir gemeinsam Ihren Freund besuchen. Er wurde bereits durchleuchtet. Wir werden sehen, was dabei herauskam.«
Rasch ziehen wir uns an und gehen in die Halle hinunter, wo uns Master Bowen in Gesellschaft des Hauptmanns erwartet.
»Guten Morgen, Freunde«, begrüßt uns der Hauptmann in schlechtem Französisch.
»Guten Morgen. Wie geht’s?«
»Haben Sie Port of Spain sympathisch gefunden?« fragt uns ein Unteroffizier der Heilsarmee.
»O ja, Madame! Es hat uns viel Vergnügen geboten!«
»Wir nehmen eine kleine Tasse Kaffee zu uns, dann gehen wir auf die Polizei. Wir gehen zu Fuß, es ist nicht weiter als zweihundert Meter. Die Polizisten grüßen uns und sehen uns ohne Neugierde an. Wir kommen an zwei schwarzen Wachebeamten in Khakiuniform vorüber und betreten einen strengen, imposanten Büroraum. Ein Offizier von ungefähr fünfzig Jahren, in Khakihemd mit Khakikrawatte, voller Abzeichen und Orden, erhebt sich. Er ist in Shorts. »Guten Tag, setzen Sie sich«, sagt er. »Ehe ich Ihnen die offizielle Erklärung abnehme, möchte ich mich ein wenig mit Ihnen unterhalten. Wie alt sind Sie?«
»Sechsundzwanzig und neunzehn.«
»Weswegen wurden Sie verurteilt?«
»Wegen Totschlags.«
»Welche Strafe haben Sie erhalten?«
»Lebenslängliche Zwangsarbeit.«
»Das war aber nicht für Totschlag, sondern für Mord?«
»Nein, mein Herr, für Totschlag.«
»
Ich
bin für Mord bestraft«, sagt Maturette. »Ich war damals siebzehn.«
»Mit siebzehn Jahren weiß man bereits, was man tut«, sagt der Offizier. »In England wären Sie gehängt worden. Aber die englischen Behörden sind nicht dazu da, die französische Justiz zu kritisieren. Wir fühlen uns aber auch nicht verpflichtet, geflohene Sträflinge an Französisch-Guayana auszuliefern. Wir halten das für unmenschlich und einer zivilisierten Nation wie der französischen nicht würdig. Aber leider können Sie nicht auf Trinidad bleiben, auch nicht auf einer anderen englischen Insel. Ich muß Sie auch um
fair play
bitten, keine Ausflüchte, Krankheit oder so was vorzuschützen, um Ihre Abreise zu verzögern. Sie können sich gerne in Port of Spain fünfzehn
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