Papillon
mujer.
Flucht aus Rio Hacha
Im Hof ist ein Bursche, der ständig Fesseln trägt. Mit dem freunde ich mich an. Wir rauchen gemeinsam eine Zigarre; eine lange, feine Zigarre, sehr stark, aber wir rauchen sie. Soviel ich verstehe, arbeitet er als Schmuggler zwischen Venezuela und der Insel Araba. Er ist wegen Mordes an Küstenwachen angeklagt und erwartet seinen Prozeß. An gewissen Tagen ist er ungewöhnlich ruhig, an anderen nervös und aufgeregt. Ich beobachte, daß er ruhig ist, wenn er Besuch gehabt hat. Er kaut dann gewisse Blätter, die ihm zugesteckt werden. Eines Tages gibt er mir ein halbes davon, und ich begreife sofort. Zunge, Gaumen und Lippen werden beim Kauen unempfindlich, es sind Kokablätter. Dieser fünfunddreißigjährige Mann mit den behaarten Armen und dem tiefschwarzen Pelz auf der Brust muß, wenn ich ihn mir so anschaue, über eine enorme Kraft verfügen. An seinen Füßen hat er eine so dicke Hornhaut, daß die Glasscherben oder Nägel, die er sich eintritt, nicht ins Fleisch gehen.
»Fuga, du und ich«, sage ich eines Abends zu ihm. Ich hatte den Haitianer bei einer Visite um ein französisch-spanisches Wörterbuch gebeten. Er hat verstanden, und er gibt mir durch Zeichen zu verstehen, daß er sehr gerne fliehen würde – aber die Fesseln! Sie sind amerikanisches Fabrikat, schnappen von selbst ein. Sie haben ein schlitzförmiges Schlüsselloch, in das nur ein sehr flacher Schlüssel paßt. Aus einem abgeflachten Stück Draht macht mir der Bretone einen Dietrich, und nach mehreren Versuchen öffne ich die Fesseln meines neuen Freundes, wann immer ich dazu Lust habe. Er ist nachts allein in einem Calabozo, einer Zelle mit sehr starkem Gitter. Unsere Gitterstangen sind so dünn, daß man sie bestimmt auseinanderbiegen kann. Er braucht also nur eine von seinen Stangen durchzusägen, dieser Antonio, so heißt er nämlich, und …
»Wie Säge haben?«
»Plata«, sagt er, »Geld.«
»Wieviel?«
»Hundert Pesos.«
»Dollars?«
»Zehn.«
Also, für zehn Dollar, die ich ihm gebe, verschafft er sich zwei Metallsägen. Ich erkläre ihm, indem ich es ihm auf dem Hosenboden aufzeichne, daß er jedesmal, wenn er ein Stück gesägt hat, die Eisenspäne mit etwas von der Reispastete, die wir bekommen, mischen und den Spalt damit ausfüllen muß. Im letzten Moment, bevor er in die Zelle zurückgeht, werde ich ihm die Fesseln aufmachen. Sollte man ihn kontrollieren, braucht er nur dagegenzudrücken, und sie schließen sich von selbst. Er braucht drei Nächte, um die Stange durchzusägen. Er erklärt mir, daß er in einer knappen Minute das letzte Stückchen durch hat und sicher ist, sie mit den Händen umbiegen zu können. Er muß mich abholen kommen.
Es regnet oft, und er sagt, daß er in der »primera noche de Iluvia«, in der ersten Regennacht, kommen wird.
Diese Nacht regnet es in Strömen. Meine Kameraden sind mit meinen Plänen vertraut, keiner will mit mir kommen, weil sie glauben, daß die Gegend, in die ich will, zu weit weg ist. Ich möchte nämlich an die Spitze der kolumbischen Halbinsel, an die Grenze von Venezuela. Auf unserer Seekarte steht, daß dieses Territorium Goajira heißt und umstritten ist. Es gehört weder zu Kolumbien noch zu Venezuela. Der Kolumbier sagt, daß es »la tierra de los indios« sei, das Land der Indianer, und daß es dort weder kolumbische noch venezolanische Polizei gebe. Manche Schmuggler durchqueren es. Es ist gefährlich, weil die Indianer nicht dulden, daß ein Zivilisierter in ihr Land eindringt. Je tiefer man hineinkommt, desto gefährlicher sind sie. An der Küste gibt es Indianerfischer, die etwas zivilisierter sind und mit dem Dorf Castillette und seiner benachbarten Siedlung La Vela Handel treiben. Er, Antonio, möchte nicht da hingehen.
Seine Kameraden oder er selbst haben in einem Kampf einige Indianer getötet, als ihr mit Schmuggelware beladenes Boot eines Tages gezwungen war, an der Küste jenes Territoriums Zuflucht zu suchen. Aber Antonio will es übernehmen, mich ganz nahe an Goajira heranzuführen; dann müßte ich allein weitergehen.
Unnötig, zu betonen, daß das alles sehr mühsam unter uns klargestellt und ausgehandelt werden mußte, weil Antonio Worte gebraucht, die nicht im Diktionär stehen. In besagter Nacht also regnet es in Strömen. Ich stehe am Fenster, sprungbereit. Eine Planke ist lose, wir haben sie längst abgerissen. Wir wollen sie als Hebel benützen, um die Gitterstangen auseinanderzubiegen. Zwei Nächte zuvor haben wir
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