Paradies für alle: Roman (German Edition)
du warst überhaupt nicht da. Du warst immer nur bei deinen Patienten.«
»Ich werde mehr da sein«, sagte Claas, »wenn er wieder aufwacht. Es muss sich irgendwie machen lassen …«
»Es lässt sich ja nie machen«, sagte ich bitter, trank den Kaffee sehr schnell aus und stand auf. »Ich fahre jetzt zu ihm. Nach Rostock. In die Klinik.«
»Ich … würde gern mitkommen«, sagte Claas leise, »aber ich kann nicht, nicht heute. Ab morgen immer.«
»Ja, ja«, sagte ich.
Und ich wollte ihm die Kaffeetasse vor die Füße werfen, damit sie kaputtging, und ihn anschreien, und mich streiten und mich wieder vertragen. Wie früher. Ich wollte, dass er mich im Arm hielt und sagte, dann komme ich eben doch mit, ich gehe nicht zur Arbeit. Ich warf die Tasse jedoch nicht, wir stritten nicht, und wir vertrugen uns nicht.
Und er ging.
Ich zog mich im Bad an und kämmte mich notdürftig, ohne noch einmal in den Spiegel zu sehen. Dann nahm ich die braune Ledermappe und trat hinaus in den zu schönen Morgen.
»Vielleicht ist ja alles gut«, flüsterte ich den Heckenrosenbüschen zu, deren zyklamfarbene Knospen kurz vor dem Aufblühen standen. Ich ahnte ihren betäubend süßen Duft durch die geschlossenen Blütenblätter hindurch, den Duft des Sommers. David hatte die Heckenrosen geliebt. Er liebte sie noch. Ich verbot mir das Imperfekt. »Vielleicht ist er schon wach, wenn ich komme. Ich öffne die Tür zu seinem Zimmer, und er sitzt im Bett und lächelt mir entgegen. Mama, sagt er, Mama, ich bin gerade aufgewacht … Er sagt nicht Lovis, sondern wieder Mama, wie früher …«
Neben dem Auto saß Lotta auf der gelben Tonne, baumelte mit den Beinen und kaute Kaugummi.
Ich sollte freundlich zu Lotta sein, dachte ich, weil David freundlich zu Lotta war … ist.
»Hast du keine Schule?«, fragte ich. Ein dummer Kommunikationsversuch. Es klang wie: Solltest du nicht woanders sein?
»Nee, nicht am Samstag«, sagte Lotta.
Ich hatte vergessen, dass Samstag war. Ich sah, wie Lottas Blick zu der braunen Mappe in meiner Hand wanderte.
»David ist immer noch krank«, sagte ich. »Du willst sicher mit David reden, oder?«
»Will ich schon«, sagte Lotta. »Aber kann ich nicht. Das weiß ich. Er ist überfahren worden.«
Ich ließ die Autoschlüssel fallen und hob sie sehr langsam wieder auf. »Das weißt du schon?«
»Weiß ich«, bestätigte Lotta, nickte und machte eine Kaugummiblase, die sehr groß wurde, ehe sie zerplatzte. Informationen, dachte ich, sind in diesem Dorf schneller als Windböen.
»Er liegt im Krankenhaus«, sagte ich. »In Rostock.«
Lotta pulte die rosa Hautreste der Blase von ihrem Gesicht und steckte sie zurück in den Mund, um weiterzukauen. »Stirbt er?«, fragte sie.
Am liebsten hätte ich sie für diese Frage geohrfeigt. Ich setzte mich auf den Fahrersitz und atmete tief durch. »Nein«, sagte ich.
»Oh«, sagte Lotta. Es war etwas in diesem »Oh«, das ich nicht begriff. Etwas wie ein »Aber«.
»Lotta«, sagte ich eindringlich und sah sie an. Sie war eigentlich ein hübsches Kind – wenn man von dem Kaugummi und ihren schlechten Zähnen absah. »Er ist auf der Autobahn überfahren worden. Ziemlich weit weg von hier. Weißt du, wie er da hingekommen ist?«
»Sie haben seine Mappe gefunden«, sagte Lotta und sprang von der gelben Tonne.
»Ja. Den … Werkstatt…bericht.«
»Komplett mit Schreibmaschine geschrieben, stimmt’s?«
Ich nickte.
»David konnte nämlich alles«, sagte Lotta zufrieden. »Sogar Zehn-Finger-Tippen.«
Damit ließ sie mich stehen und rannte davon, quer durch unseren Garten, um am anderen Ende über den Schafszaun zu klettern.
David konnte nämlich alles. Ich ertappte mich bei einem Lächeln. Aber es war ein bitteres Lächeln. Ja, Lotta, dachte ich, David konnte alles. Nur seine Mutter, die kann nicht alles. Die kann nur eine einzige Sache auf der Welt: graue Kästchen malen.
Und das nützt ihr überhaupt nichts, gar nichts. Nichts.
Zehn-Finger-Tippen.
Irgendetwas löste diese Bemerkung in mir aus, einen Gedanken, den ich nicht zu fassen bekam. Am Dorfausgang stand René, hob die Hand und sah meinem Auto nach. Beim nächsten Auto würde er die Hand auf die gleiche majestätische Art heben und winken. René war, um korrekt zu sein, »mentally challenged«. Er verbrachte seine Tage damit, die Straße hinauf- und hinabzugehen und manchmal zu winken. Sein strohblondes Haar ragte ihm in einzelnen Strähnen ins Gesicht, er hatte ein fliehendes Kinn und eine
Weitere Kostenlose Bücher