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Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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seltsam vorgewölbte Stirn und trug immer einen Blaumann, obwohl er noch nie irgendwo gearbeitet hatte.
    Ich erwiderte sein Winken lahm und war froh, das Dorf hinter mir zu lassen, um klarer zu denken.
    Doch die Süße der Rapsfelder drang durch die Lüftung ins Auto, machte mich schwindelig und das Denken schwer. Der Raps war unnatürlich gelb, ein Meer aus Gelb vor dem blauen Meer in der Ferne, und ich erinnerte mich daran, wie David und ich Verstecken im Raps gespielt hatten, in einem anderen Frühjahr vor langer Zeit. Ich hörte sein Lachen noch, seine Rufe: »Hier bin ich! Hier! Aber du findest mich nicht!« Irgendwann hatte ein Bauer uns entdeckt und ausgeschimpft, und ich hatte neben meinem Sohn gestanden wie ein zweites Kind, mit hängenden Schultern. Damals hatten David und ich auf dem gleichen Planeten gelebt.
    Zehn-Finger-Tippen.
    Das Zimmer, in dem David lag, sah genauso aus wie beim letzten Mal, und der David, der in dem Zimmer lag, sah ebenfalls genauso aus. Er hatte sich, soweit ich sehen konnte, nicht bewegt. Das Einzige, was er tat, war atmen.
    Eine der Schwestern, eine ältere, hagere Person mit sehr kurzem grauem Haar, trat leise neben mich und berührte meinen Arm. Als ich zu ihr sah, lächelte sie, und dann ging sie, ein ultramarinblau gekleideter Schatten, und ließ mich allein. Ich war dankbar für die Wortlosigkeit ihrer Berührung.
    Ich saß lange neben Davids Bett an jenem Vormittag, so reglos wie er selbst. Wir atmeten die gleiche stille Luft ein und aus.
    »Ich werde für dich malen«, flüsterte ich. »Keine grauen Kästchen, sondern den obdachlosen Prinzen. Lotta am Zaun. Die Kittelschürzenfrau, die auf ihrem Dachfirst sitzt. Du wolltest mich nicht fragen, weil ich mit einer anderen Ausstellung zu tun hatte … Verschiebungen …«
    Verschiebungen.
    Zehn-Finger-Tippen.
    Und dann hatte ich es. Die Geheimschrift. Er hatte nicht mühsam jeden Buchstaben auf der schwergängigen Tastatur gesucht. Wenn man mit zehn Fingern tippen konnte, brauchte man bloß die Hände auf den Tasten zu verschieben, und niemand konnte mehr lesen, was man schrieb. Ein Kinderspiel.
    Ich stand auf, plötzlich aufgeregt. »Ich werde es probieren!«, flüsterte ich. »Ich werde ausprobieren, ob es funktioniert! Bis später.«
    Das Arztzimmer war leer, aber ich fand Thorsten Samstag bei einem anderen Patienten. Auf der Intensivstation gab es keine geschlossenen Türen, man konnte in alle Zimmer hineinsehen wie in offene Schubladen. Dies war eine Kinderintensivstation, und das Bett, über das Thorsten Samstag gebeugt stand, enthielt einen sehr kleinen Körper, so klein, dass ich ihn beinahe übersehen hätte. Ich wünschte, ich hätte ihn übersehen. Ich schluckte zweimal schwer.
    »Eine Schreibmaschine«, sagte ich dann zu Thorsten Samstags ultramarinblauem Rücken. »Gibt es hier auf der Station eine Schreibmaschine?«
    Er drehte sich um und richtete sich auf; er trug sterile Handschuhe und war offensichtlich mit etwas beschäftigt, das seine ganze Konzentration erforderte. Ich dachte, er würde ungehalten reagieren, warum fragte ich nicht die Schwestern? Und wer war ich überhaupt? Er würde sich nicht erinnern …
    »Frau Berek«, sagte er und lächelte. Er war groß, noch etwas größer als Claas, doch das zerwühlte blonde Haar ließ ihn wirken wie einen zu rasch gewachsenen Jungen. »Ja. Wir haben eine Schreibmaschine. Eine ganz alte. Fragen Sie Schwester Erika. Sie ist im Schwesternzimmer, denke ich. Wir beide können uns nachher unterhalten.«
    Schwester Erika fragte nicht, wozu ich eine Schreibmaschine brauchte. Sie schien sich nicht einmal zu wundern. Vielleicht, dachte ich, haben eine Menge Angehörige von sehr kranken Kindern abstruse Wünsche, weil sie ein wenig durcheinander sind.
    Die Maschine stand im »Lager«, wie Schwester Erika sagte, einem hohen Raum mit dem Geruch von Zukunft, die an einem seidenen Faden hing.
    Windelpakete stapelten sich an den Wänden zu türkisblauen Festungen, Inkubatoren warteten geduldig auf ihren nächsten Einsatz: merkwürdige Aquarien mit seitlichen Handeingriffen, die mich an Raumfahrt oder mittelalterliche Folterinstrumente denken ließen.
    Die Schreibmaschine stand auf einem Regal in – immerhin – Tischhöhe, neben einem Vorrat an Desinfektionsflaschen und Babypuderdosen. Schwester Erika befreite sie von ihrer Schutzhaube.
    »Sie ist zu schwer«, sagte sie, »um sie woandershin zu tragen …«
    »Lassen Sie nur«, sagte ich. »Darf ich einen Stuhl hierhin

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