Paradies für alle: Roman (German Edition)
stellen?«
»Von mir aus.« Sie zuckte die Schultern. »Brauchen Sie Papier?«
»Nein«, sagte ich und lächelte. »Nicht mal ein Farbband.«
Der Stuhl passte gerade noch zwischen die Inkubatoren und die Windelregale. Ich schloss die Tür des Lagers und lehnte die geöffnete Ledermappe mit Davids WERKSTATTBERICHT gegen eine Großpackung mit Feuchttüchern. Aus dem Augenwinkel glaubte ich, in den Inkubatoren die Schatten winziger Körper zu sehen. Es war schwer, die Einbildung wegzublinzeln.
David war ein gesundes Baby gewesen, er hatte nie in einem Inkubator gelegen. Und was, dachte ich, nützt ihm das jetzt?
Ich legte meine Hände auf die Tasten der Schreibmaschine im Regal vor mir.
Dann verschob ich meine Finger um eine Tastenreihe, probeweise zuerst nach oben. Ich tippte Davids ersten Satz, ließ meine Augen dabei nach unten wandern, jeweils eine Taste nach unten links … Und plötzlich gab der Satz einen Sinn. Die erste Verschiebung war bereits die richtige gewesen; einmal in seinem Leben machte David es mir leicht. Ich begriff jetzt, weshalb das »b« so oft im Text vorkam, das »b« war sein Ersatz für das Leerzeichen. Zum Glück hatte er die Shifttaste nicht benutzt, sonst wäre alles noch mehr durcheinandergekommen, er hatte alles kleingeschrieben; meine Augen lasen die Großbuchstaben von selbst in den Text …
Die türkisblauen Wände aus Verpackungsplastik umschlossen mich wie eine schützende Hülle, als säße ich selbst in einem Inkubator, einem künstlichen, schützenden Leib.
Und einen Moment lang war ich wieder das kleine Mädchen von vor dreißig Jahren, das sich im Spielplatzhäuschen zwischen den Mietskasernen vor der Welt versteckte, um abstrakte Striche auf Papier zu zeichnen. Keiner hatte mich damals verstanden, sie hatten gesagt: Man erkennt ja gar nichts. Ich war nicht überdurchschnittlich intelligent gewesen, aber auch ich hatte als Kind meine Geheimschrift gehabt, eine Geheimschrift der Malerei.
Ich fand einen Bleistift und einen alten Zettel in meiner Tasche, und dann begann ich Davids Text zu entschlüsseln.
Werkstattbericht – Eintrag 2
17. 10. 2011
Ich werde dort fortfahren, wo ich in den Wald hineinging.
Der Wald bei unserem Dorf ist ein Laubwald und besteht zu 90 Prozent aus Buchen. Es gibt aber auch Kiefern, weshalb es kein reiner Laubwald ist, sondern ein überdurchschnittlich belaubter oder unterdurchschnittlich benadelter Wald.
An diesem Tag war der Wald ein guter Ort zum Nachdenken. Goldgelbe Buchenblätter segelten von oben herunter, und mit den Blättern fielen die Gedanken von dort herab, was doch ein schönes Bild für Lovis wäre, statt Kästchen.
»Ein Alter, ein Kranker, ein Toter«, sagte ich zu den Bäumen.
Als Prinz Siddharta den alten Menschen getroffen hatte, erklärte ich den Bäumen, war ihm plötzlich aufgefallen, dass alle Menschen altern, sogar ein Prinz. Als er den kranken Menschen traf, merkte er, dass das Altern verbunden ist mit Krankheit und Schmerzen (und mit möblierten Zimmern in Heimen).
Als er den toten Menschen traf – aber den traf er ja nicht, der war schon tot, er traf nur den Leichenzug. Früher dachte ich immer, ein Leichenzug wäre ein Zug für Leichen. Ich hatte in jedem Bahnhof Angst, wir würden so einen Zug sehen.
Falls Sie das nicht wissen: Ein Leichenzug sind Leute, die einem Sarg hinterhergehen. Als Siddharta so einen Zug traf, dachte er, dass alle Menschen sterblich sind.
Das beunruhigte ihn. Mich beunruhigte es auch.
»Ich werde sterben«, sagte ich zu den Bäumen. »Alle Lebewesen sterben. Schildkröten werden sehr alt, Pilze nicht, aber alle sterben.«
Liste der Gedanken, die ich dann dachte:
Erstens – Es gibt einen grassierenden Unterschied zwischen Schildkröten und Pilzen einerseits und Menschen andererseits.
Zweitens – Dieser Unterschied ist, dass der Mensch nachdenken kann.
Drittens – Unterliste der Dinge, über die der Mensch nachdenken kann: Das Alter. Die Krankheit. Der Tod.
Viertens – Vergessener Punkt auf der Unterliste der Dinge, über die der Mensch nachdenken kann: Was nach dem Tod kommt.
Fünftens – Siddharta hat gesagt, am Ende aller Wiedergeburten kommt das Nirwana. Das Nichts.
Ich stelle es mir schrecklich vor, in ein Nichts hineinzukommen. Vor allem, wenn man nicht wieder herauskommt.
Ich möchte daher lieber nicht ans Nirwana glauben.
An ein Paradies zu glauben so wie das von Lotta wäre einfacher, denn ein Paradies kann ich mir vorstellen. Nichts kann ich mir nicht
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