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Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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vorstellen.
Wenn natürlich alles Leben Leiden ist, ist es logisch, dass man lieber gar nichts möchte als nur Leiden.
Aber das stimmt ja gar nicht.
Ich guckte in die hohen Buchenkronen und dachte, dass es doch lauter schöne Sachen gibt: es gibt den Wald und das Sonnenlicht und mein Zimmer mit den gesammelten Schneckenhäusern und Büchern und Primzahlen, die ich nämlich auch sammle, in einem sehr dicken Heft.
Dann dachte ich an die alte Frau, die geweint hatte, und an Herrn Wenter, der sich nicht zum Arzt traute, und an Lotta, die kein Fahrrad bekam, weil ihre Eltern kein Geld hatten und keine Arbeit. Und ich dachte, dass es also auch nicht-schöne Sachen gibt.
»Es ist die Verteilung«, sagte ich zu den Buchen. »Die Verteilung ist ungerecht. Manche Leute kriegen wohl nur das Schöne und manche nur das Leid. Aber warum?«
Diese Frage war so schwierig, dass ich keine Antwort darauf fand, obwohl ich sehr lange durch den Wald wanderte.
Schließlich machte ich im Kopf eine Liste der Dinge, die es in meinem Paradies geben sollte.
Liste der Dinge, die es in meinem Paradies geben sollte:
Buchen (weil sie gerade da waren)
Regale
Fahrräder (für Lotta)
die Sorte Eis mit den kleinen Keksteigstückchen drin
die Tarzanschaukel
einen Ort, wo man hingehen kann, um ungestört nachzudenken (ohne Lotta)
ein Atelier für Lovis und ein bequemes Bett für Claas, der immer müde ist
einen Garten für die Kittelschürzenfrau, mit Gemüse und Blumen
Medizin für Herrn Wenter gegen den Husten
Fußball
Als ich »Fußball« auf meine mentole Liste geschrieben hatte, sah ich durch die Bäume etwas Blaues blitzen. Der Wald reichte hier offenbar bis ans Meer heran. Und dann, beinahe gleichzeitig, sah ich
DAS HAUS.
Ich schreibe es groß, weil es sehr wichtig ist, dass ich
DAS HAUS
fand. Es ist eher eine Hütte. Das Dach sieht von der Form her aus, als wäre es früher aus Schilf gewesen, es reicht tief hinunter bis fast über die niedrigen Fenster. Jetzt ist das Schilf ersetzt worden durch große, graue Bleche, die waren wohl billiger.
Um das Haus herum ist ein Zaun aus allen möglichen Sorten von Holz: Latten und Brettern und Stöcken und sogar einem Besenstil. In dem Zaun gibt es ein kleines, schiefes Gartentor. Dahinter wachsen eine Menge Büsche:
Heckenrosenbüsche
Jasminbüsche
Holunderbüsche
und einen mir unbekannten Busch mit kleinen rosa Blüten.
Am Zaun hängt eine Kiste für Briefe. An diesem Tag war darin ein einziger Brief. Ich nahm ihn heraus und ging zur Haustür. Ich kam nicht weiter mit dem Nachdenken, und manchmal hilft es, in diesem Fall mit jemandem zu reden. An der Haustür gab es keine Klingel, also klopfte ich.
»Sie haben Post!«, rief ich, »vom Ottokatalog!«
Niemand antwortete.
Ich drückte die Klinke herunter – die Tür war nicht abgeschlossen. Dahinter lag ein kleiner Vorflur, und dann kam ein niedriges, dunkles Zimmer, vollgestopft mit Bücherregalen. Die Vorhänge waren zugezogen, und meine Augen brauchten eine Weile, um sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Die Luft war abgestanden und muffig, und an einigen Stellen schimmelte die Tapete. Es gab ein Sofa und einen Sessel und einen kleinen Tisch, und dann noch einen Fernseher, der so groß und so alt war wie ein Dinosaurier. Den Rest des Raumes nahmen die Bücher ein. Sie lagen auf dem Tisch, auf den Sesseln, über den Fußboden verstreut, überall. Nur die Bücherregale waren leer. Ich hob ein Buch hoch. Neues Testament, las ich auf dem Buchrücken.
Falls Sie das nicht wissen: Das ist die Fortsetzung des Alten Testaments.
Wo, dachte ich, war der Mensch, dem alle diese Bücher gehörten? Hatte er diese Unordnung gemacht, auf der Suche nach einem bestimmten Buch?
Eine Weile stand ich mitten im Raum, den Brief vom Ottokatalog und das Neue Testament in der Hand. Es war ganz still. Nur der Wind schlich draußen durch die Bäume. Dann knarzte irgendwo oben im Haus ein Balken, und ich zuckte zusammen. Ging dort jemand über mir auf und ab? Jemand, der mein Klopfen gehört hatte, aber nicht antworten wollte? Ich legte das Buch zurück auf den alten fleckigen Teppich und ging in den nächsten Raum. Das war eine sehr kleine, sehr dreckige Küche. Auf dem Fensterbrett stand eine Schale mit drei braunen Früchten, die vielleicht einmal Äpfel gewesen waren. Die Kühlschranktür war übersät mit vergilbten, sich langsam an den Ecken einrollenden Aufklebern. Ich öffnete den Kühlschrank lieber nicht.
Oben im Haus knarzte wieder ein Balken.
Als ich ins Wohnzimmer

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