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Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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wiedergewinnen. Vielleicht war dies die einzige Chance, die mir gegeben wurde.
    Von wem, dachte ich, gegeben wurde? Von einem Gott? Ich glaubte an keinen Gott. Ich versuchte, mich zu erinnern, woran ich mit neun Jahren geglaubt hatte. Meine Eltern waren Christen, wir sind aus dem Westen, wo es sich gehörte, Christ zu sein, zumindest damals. Ich wusste noch, dass ich an den Sonntagen in die Kirche gehen musste. Aber woran ich glaubte oder wann ich aufgehört hatte, es zu tun, das wusste ich nicht mehr.
    Ich dachte an Lotta und ihr verlorenes Paradies, in dem es Schokolade und Blumen und Fahrräder für alle gab. Als ich die Mappe zuschlug und aufsah, lehnte sie nicht mehr am Zaun.
    Auch der Hund lag nicht mehr zu meinen Füßen. Die Schafe hatten mir die schwarzen, wolligen Rücken zugekehrt. Claas würde irgendwann nachts aus der Klinik zurückkommen.
    »Geh ruhig«, hatte ich gesagt.
    Nun war ich allein.
    Ich dachte daran, wie ich damals, nach Davids Geburt, um jede Minute des Alleinseins gerungen hatte: jede Minute, die ich zwischen Kindergeschrei und Tischdecken, zwischen Wäschewaschen und Staubsaugen für mich und die Malerei hatte. Jede Minute, in der die Welt mich in Frieden ließ. Am Ende war ich wohl zu gut darin geworden, diese Minuten zu sammeln. Jetzt hatte ich zu viele Minuten und keine Welt mehr.

2.
    Ich rief die Klinik noch einmal an, und ein Arzt, den ich nicht kannte, erklärte mir, Davids Zustand sei unverändert. Aber mein Zustand nicht!, wollte ich rufen. Ich habe eine Mappe voller verschlüsselter Texte gefunden, und jetzt ist es, als hätte David mir einen Anker hinterlassen, samt Seil, mit dem ich ihn zurückholen kann aus der Zwischenwelt, in der er sich befindet. Wenn ich es nur richtig anstelle.
    Ich versuchte den ganzen Nachmittag, die Schreibmaschinenbuchstaben hin und her zu schieben.
    Als es dämmerte, stellte ich eine neue Schale Wasser auf die Veranda. Nur, falls der Hund wiederkäme.
    Im Bett las ich den unverschlüsselten ersten Eintrag des Werkstattberichts noch einmal.
    Etwas war seltsam.
    Warum hatte David nicht mehr über die einsame, schwarz gekleidete Spaziergängerin geschrieben? Hatte er sie nicht gefragt, auf wessen Beerdigung sie ging? Alles andere hatte er minutiös aufgeschrieben, und hier gab es eine Lücke.
    Vermutlich bedeutete es nichts. Vermutlich hatte er einfach gegen Ende dieses sehr langen Eintrags die Lust verloren. Ich stellte mir vor, wie er vor der alten Schreibmaschine saß und jeden Buchstaben erst suchen musste, um dann mit der nötigen Kraft darauf zu hämmern. Wie viel mühsamer musste es erst gewesen sein, die Buchstaben nach einem System der Verschlüsselung zu schreiben! Ich versuchte, mich an den Mai vor einem Jahr zu erinnern, in dem er seine Werkstatt begonnen hatte. Im Mai letzten Jahres hatte ich eine Ausstellung in München vorbereitet: »Verschiebungen«.
    Verschiebungen realer Vorstellungen in abstrakte Welten, etwas in der Richtung hatte im Katalog gestanden. David hatte nur freundlich gegrinst und gesagt: »Du malst wieder graue Kästchen.«
    Warum hatte ich mich im letzten Mai mit grauen Kästchen beschäftigt statt mit David?
    Warum beschäftigte ich mich generell mit grauen Kästchen?
    Die Antwort war so einfach wie schmerzlich.
    »Weil mir die grauen Kästchen etwas zurückgeben«, flüsterte ich in die Dunkelheit des stillen Schlafzimmers. Denn für die grauen Kästchen bekam ich – erstaunlicherweise – Anerkennung. Irgendetwas sahen die Menschen in meinen Bildern, und so stand ich mich seit Jahren von Vernissage zu Vernissage, Sektgläser in der Hand, Worte des Lobes im Ohr. Ich fragte mich, wann ich begonnen hatte, die grauen Kästchen als meine wahre Familie zu betrachten.
    Sie waren so stumm und fügsam. Sie widersprachen nie.
    Sie schmissen sich nicht in der Küche auf den Fußboden und schrien mich an, weil ich ihnen verboten hatte, mit drei Jahren eine wissenschaftliche Sendung über die Präparation menschlicher Leichen zu sehen.
    Sie fuhren nicht in die Klinik, um erst spät nach Hause zu kommen.
    Ich sah die grauen Kästchen vor mir, als ich einschlief, aber im Traum lagen sie plötzlich in einem großen Berg auf einem weißen Klinikbett, sie hatten das, was darin lag, unter sich begraben, verschüttet, zerquetscht. Nur noch eine goldene Haarsträhne winkte aus dem Berg der tödlichen Abstraktion.

    Als ich aufwachte, war es dunkel. Ich tastete um mich, stieß mit der Hand gegen einen Körper und erschrak.
    »David?«,

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