Paradies für alle: Roman (German Edition)
sie zu benützen.
Ich wollte ja sagen, damit Lotta sich freute, aber dann sagte ich nein, weil ich plötzlich dringend nachdenken musste. Nachdenken kann ich am besten, wenn ich im Wald herumwandere. Alleine.
»Aber ich denke auch über dich nach, und deshalb bist du eigentlich dabei, wenn ich im Wald herumwandere«, sagte ich.
»Wieso? Ich bin doch hier«, sagte Lotta.
»Ja, das auch«, sagte ich. »Komm, bis zur Tarzanschaukel können wir ja zusammen gehen.«
In unserem Dorf gibt es eigentlich nur zwei Straßen. Eine davon ist der Sandweg, der zum Wald führt.
Ich glaube, meine Eltern sind in dieses Dorf gezogen, damit Lovis das richtige Licht zum Malen hat. Mein Vater muss jeden Tag sehr weit zur Klinik fahren. Falls Sie das nicht wissen: Mein Vater ist Arzt für Innere Medizin in Stralsund. Wenn er nicht in der Klinik ist, liegt er zu Hause im Bett und schläft, weil er erschöpft ist.
Früher ist er manchmal mit mir und Lovis in den Wald gegangen.
Leider habe ich keine Aufzeichnungen darüber gemacht. Ich glaube aber, wenn ich eine Befindlichkeitstabelle angefertigt hätte, so wie neulich bei dem Projekt in der Schule, hätten diese Tage alle Smileys bekommen.
Vor dem kleinen weißen Haus am Beginn des Sandwegs saß die Kittelschürzenfrau, deren Namen ich nicht wusste, auf einem blauen Küchenstuhl mitten zwischen den herbstlich roten Johannisbeerbüschen.
»Hallo«, sagte ich. »Warum sitzen Sie in den Büschen?«
Sie sah mich an. In ihrem Gesicht waren sehr viele kleine Fältchen, und ich dachte, dass es ein gutes Projekt wäre, Fältchen in Gesichtern zu zählen und ein Diagramm zu zeichnen über die Abhängigkeit von Alter und Anzahl der Gesichtsfältchen. Die Kittelschürzenfrau wäre an diesem Diagramm ganz an der Spitze der Kurve eingetragen worden. Sie war alt und zerknittert wie Alufolie. Ihre Wangen glitzerten auch wie Alufolie. Sie hatte geweint.
»Das ist mein Garten«, sagte sie durch den Maschendrahtzaun zu mir. Ihre Stimme war sehr leise. Ich hatte noch nie mit ihr gesprochen.
»Weinen Sie, weil das Ihr Garten ist?«, fragte Lotta.
»Ja«, sagte die Kittelschürzenfrau. Und dann, noch leiser: »Ich muss ihn weggeben. Er wird jemand anderem gehören, weil ich zu alt bin. Ich schaffe das nicht mehr, sagen sie …«
»Und dann steht das Haus ohne Garten da?«, fragte Lotta. »Das sieht aber sicher komisch aus.«
»Nein, es ist anders, meine Kleine«, sagte die Kittelschürzenfrau. Tatsächlich lächelte sie jetzt ein bisschen, wie Sonne, die versucht, durch Wolken zu scheinen. Dann fielen eine Menge Worte aus ihr heraus wie kleine, erdige Kartoffeln aus einem Sack. »Ich muss weg«, fiel aus ihr heraus. »Der Sohn hat schon einen Platz für mich beantragt, im Seniorenwohnheim Friedensstift. Er hat lange gesucht, bis er eins gefunden hat, das man sich leisten kann. Es ist schön da, hat er gesagt, drüben auf der Insel, man kann das Meer sehen, aus dem fünften Stock. Da kümmern sie sich um mich, muss sich doch jemand kümmern, mit dem offenen Bein und allem, und ich vergesse immer, welche Medikamente ich wann nehmen muss, und die Hände machen auch nicht mehr alles mit, schaut sie euch an …«
Sie streckte uns ihre Finger entgegen, und die Finger waren krumm und voller kleiner Knötchen.
»Ich möchte aber das Meer gar nicht sehen«, sagte sie.
»Und ein kleines Stück vom Meer könnten Sie auch sehen, wenn Sie hier auf Ihr Dach klettern würden«, sagte Lotta.
Die Kittelschürzenfrau sah ihr Dach an. Ich stellte mir vor, wie sie auf dem Dachfirst saß, um das Meer zu sehen. Und ich dachte, dass Lovis das malen könnte, wenn sie nicht so viel mit dieser anderen Ausstellung zu tun hätte, die sie gerade vorbereitet.
»Ich werde die Johannisbeerbüsche vermissen«, sagte die alte Frau. Sie wischte mit einem knotigen Finger durch ihr Auge und betrachtete die Träne an ihrer Fingerspitze. Sie glänzte wie ein ganz kleines, eigenes Meer.
»Wann müssen Sie denn weg?«, fragte ich.
Sie hob die Schultern. »Bald. Wenn der nächste Platz in diesem Heim frei wird. Immer, wenn einer stirbt, wird da ein Platz frei … Dann sucht der Sohn einen Käufer für den Garten. Und das Haus. Die Möbel bleiben auch hier, das Zimmer im Heim ist schon möbliert.«
»Wie gemein«, sagte ich, denn es erschien mir besonders gemein, dass das Zimmer möbliert war mit fremden Möbeln.
Die Kittelschürzenfrau schwieg jetzt, sie war versunken in die Betrachtung des dunklen Erdreichs eines Gemüsebeetes.
»Gehen wir jetzt
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