Paradies
genug.
Plötzlich spürte er, dass er den Tränen nah war, biss die Zähne zusammen und gab Gas, er musste etwas essen. Er bog auf die Agnegatan und parkte auf einer Wendeplatte, egal.
Er schloss den Wagen ab, das hier war ihr Viertel. Er sah an der verfallenden Fassade hoch, das Haus hätte schon vor zwanzig Jahren renoviert werden müssen.
Vielleicht war sie sogar zu Hause. Vielleicht saß sie oben in ihrer Wohnung im zweiten Stock, der weißen, schwebenden Wohnung, vielleicht las sie ein Buch oder sah fern.
Der Gedanke ließ seinen Mund trocken werden und sein Herz schneller schlagen.
Eine Lampe beleuchtete matt den Gang zum Hinterhof. Das Tor stand offen, er brauchte nur hineinzugehen, so einfach war das.
Langsam bewegte er sich auf das Gebäude zu, sah das, was sie jeden Tag sah, die Graffitis an der Wand, den abblätternden Putz.
Und wenn sie jetzt herauskam? Er hielt inne. Sie durfte ihn nicht sehen. Er blieb am Ende des Gangs stehen und schaute nach oben.
Zwei erleuchtete Fenster, das rechte mit einer Plastiktüte statt der obersten Scheibe, ihre Wohnung. Sie war zu Hause.
Dann sah er sie. Sie ging am Fenster vorbei und nahm etwas vom linken Fensterbrett. Für einen Moment sah er ihre schwarze Silhouette vor dem hellen Zimmer, ihre Haare, den mageren Körper, die Hände, dann drehte sie sich um, und die Lampen wurden gelöscht.
Vielleicht wollte sie das Haus verlassen.
Er machte auf dem Absatz kehrt und lief zu seinem Auto zurück, warf sich auf den Fahrersitz und fuhr los, ohne die Handbremse zu lösen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie sehr sein Herz schlug.
Er würde sie niemals wieder sehen.
DIENSTAG, 4. DEZEMBER
Annika vermied es, einen Blick auf den gelben Aushänger zu werfen. Er war greller als je zuvor, und die reißerischen Überschriften schienen mindestens auf einen Weltkrieg hinzudeuten. Das
Abendblatt
enthüllt: Das
Paradies,
das bedrohte Menschen hereinlegt.
Sie eilte vorbei, wollte das nicht wahrnehmen, zog die Jacke enger um sich, umklammerte das Portemonnaie in der Hand und fror.
Sie eilte die Treppenstufen zum Laden hinauf. Der Mann an der Kasse war noch nicht dazu gekommen, die Zeitungen auszupacken, und sie riss das Plastikband ab und begutachtete das Resultat.
Auf der ersten Seite war ein heimlich und aus weiter Entfernung aufgenommenes Bild von einer Frau zu sehen. Vermutlich war es Rebecka Björkstig, aber ihre Haare und das Gesicht waren durch schwarze Balken ersetzt worden. Annika kniff die Augen zusammen. Das war der klassische Trick, um besser sehen zu können, was das Foto zeigte. Das Bild wurde tatsächlich etwas deutlicher, aber die Frau ließ sich dennoch nicht identifizieren.
Sie wog die Zeitung in der Hand, wie leicht sie war, wie wenig ihre Anstrengungen im Grunde bedeuteten. Annika faltete sie zusammen, legte sie in den Einkaufskorb, sie konnte weiterlesen, wenn sie wieder zu Hause war. Dann ging sie zur Lebensmittelabteilung, packte Joghurt und Weißbrot, Käse und Bratwürste in ihren Korb, bezahlte, klemmte sich die Zeitung unter den Arm und ging hinaus. Die Luft war klar und kühl, die Sonne ging am Horizont auf. Schnell ging sie die Hantverkargatan zurück, rutschte aus, ihr Herz schlug, sie konnte nicht anders, das
Paradies
war trotz allem ihre Geschichte.
Sie stellte die Lebensmitteltüte im Flur auf den Boden, nahm die Zeitung, ließ sich im Wohnzimmer auf die Couch fallen und las den Aufmacher auf der ersten Seite. Hingewiesen wurde auf die Seiten 6, 7, 8, 9, 10 und 11. Sie bekam eine Gänsehaut, das war wirklich ein durchschlagender Erfolg.
Schnell blätterte sie am Leitartikel und dem Kulturteil vorbei, der erste Artikel handelte von der Stiftung, gab Rebecka Björkstigs Beschreibung davon wieder, wie die Stiftung funktionierte. Die Bilder bestanden aus mehreren heimlich aufgenommenen Fotos von Rebecka Björkstig und einigen anderen Personen, vermutlich ihrer Familie. Annika meinte, im Hintergrund das Haus der Stiftung in Olovslund erkennen zu können, aber die Bilder hätten auch ganz woanders aufgenommen worden sein können. Sie las die Texte aufmerksam durch. Berit hatte sie zwar geschrieben, aber sie basierten zu hundert Prozent auf ihren Informationen. Die Artikel hatten einen doppelten Bildeinschlag, Berit und sie waren beide als Autorinnen genannt.
Sie betrachtete lange ihren Namen und versuchte zu definieren, was sie dabei empfand. Vielleicht war es Stolz, vielleicht auch ein wenig Angst, das würde Konsequenzen haben. Ein gewisses
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