Paradies
Bestattung begann um vierzehn Uhr, er hatte angerufen und sich erkundigt, er hatte noch ein paar Stunden Zeit. Hatte er sich vielleicht in etwas verrannt? Bildete er sich etwas ein? Hatte er schon Hirngespinste? War die Reaktion seiner Vorgesetzten wirklich heftiger gewesen, als zu erwarten war? Und warum sollte das alles etwas mit Aida aus Bijeljina zu tun haben?
Ehrlich gesagt, war ihm das alles egal. Das Einzige, was ihn interessierte, war seine eigene Zukunft. Er wollte das Spielfeld, seine Bedingungen kennen, seine Feinde identifizieren können. Dabei sollte ihm Aida nach ihrem Tod helfen.
Er steckte sich eine Zigarette an, nahm ein paar tiefe Züge und spürte, wie der Sauerstoff seine Lungen füllte und das Nikotin in sein Gehirn leitete. Verdammt, war dieses Land kalt.
Wenn heute alles nach Wunsch ablief, brauchte er nie wieder hierher zu kommen. Alles wäre dann in trockenen Tüchern, und er würde dieses verfluchte Land hinter sich lassen können.
»Thomas! Sie stehen in der Zeitung!«
Die Sachbearbeiterin, die für Aida Begovics Fall verantwortlich gewesen war, hüpfte in einem missglückten Joggingversuch aus ihrem Büro heraus. Ihre Wangen waren rot, die Stirn glänzte, und sie lächelte einfältig und schwenkte erregt die Morgenausgabe des
Abendblatts.
Thomas zwang sich, ihr Lächeln zu erwidern.
»Ich weiß«, sagte er.
»Sie schreiben darüber, dass Sie…«
»Ich weiß!«
Er ging in sein Büro und schloss die Tür mit einem Knall hinter sich, konnte das einfach nicht ertragen. Er ließ sich auf den Stuhl am Schreibtisch fallen und legte den Kopf in die Hände. An diesem Morgen hätte er es fast nicht über sich gebracht, zur Arbeit zu gehen. Der Haushalt war im Gemeinderat verabschiedet worden, die Quartalsberichte waren fertig. Er hatte alles rechzeitig geschafft, sie waren pünktlich fertig geworden. Jetzt war es an der Zeit, wieder von vorn anzufangen, zum achten Mal, jedes Jahr mit weniger Einnahmen und größeren Ausgaben und Kürzungen beim Personal. Die Betroffenen sah man dann in den Medien. Sie waren wütend, verzweifelt, traurig, resigniert. Die Zahl der Langzeitkranken stieg, die Mittel für Rehabilitierungsmaßnahmen sanken.
Er seufzte und streckte sich. Sein Blick landete auf der aufgeschlagenen Zeitung, und er las ihren Namen. Er hatte die Artikel vorher lesen dürfen, aber nicht gewusst, dass sie die Texte geschrieben hatte. Eine andere Frau hatte ihn angerufen, eine Reporterin namens Berit Hamrin. Warum hatte Annika nicht angerufen?
Er verdrängte den Gedanken gereizt, wollte nicht, dass sie ihn anrief, er strich die Zeitung vor sich glatt. Das Bild von ihm war furchtbar. Die Haare hingen ihm ins Gesicht, was schlampig aussah. Er las die Texte noch einmal, Annikas Texte, und erkannte ihre Informationen wieder. Sie hatte ihm wirklich alles erzählt, was sie wusste, sie war ehrlich zu ihm gewesen.
Es klopfte an seiner Tür, und er schlug instinktiv die Zeitung zu und legte sie in die oberste Schreibtischschublade.
»Darf ich reinkommen?«
Es war seine Chefin.
»Natürlich. Setz dich.«
»Ich weiß, dass du eine schwierige Phase durchgemacht hast«, sagte seine Chefin, »aber ich möchte, dass du weißt, dass du hier von allen sehr geschätzt wirst.«
Sie war freundlich und ernst und sah ihm in die Augen. Er wich ihrem Blick aus und starrte ein Dokument auf seinem Schreibtisch an.
»Ich bin sehr zufrieden mit deiner Arbeit. Ich weiß, dass du dich eine Zeit lang schwer getan hast, aber ich hoffe, dass es besser wird, sobald die Arbeit am Haushalt erst einmal hinter dir liegt.
Wenn du das Gefühl hast, mit jemandem reden zu müssen, kannst du dich jederzeit an mich wenden.«
Er blickte zu ihr auf und konnte seine Verwunderung nicht verbergen. Jetzt war seine Chefin an der Reihe, den Blick zu senken.
»Ich wollte nur, dass du das weißt«, sagte sie und stand auf.
Thomas erhob sich ebenfalls und murmelte ein paar dankbare Worte.
Als die Frau die Tür hinter sich geschlossen hatte, ließ er sich wieder verblüfft auf seinen Stuhl fallen. Was sollte das denn?
In der gleichen Sekunde klingelte das Telefon, und er schrak zusammen.
»Thomas Samuelsson?«
Es war ein Dezernent des Schwedischen Gemeindetags, o Gott, was wollten die denn von ihm? Automatisch nahm er eine aufrechte Haltung hinter seinem Schreibtisch ein.
»Sie erinnern sich vielleicht nicht an mich, aber wir sind uns letztes Jahr bei den Tagen der sozialen Dienste auf Langholmen begegnet.«
Er erinnerte
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