Paradies
Maß an Distanzierung musste sein, sie konnte das nicht alles auf einmal aufnehmen.
Sie seufzte, blätterte weiter und schrak zusammen.
Thomas Samuelsson starrte sie von einem Schwarzweiß-Bild auf Seite acht an. Das Foto war in seinem Büro im Vaxholmer Rathaus gemacht worden, sie erkannte das Bücherregal im Hintergrund wieder. Er enthüllte den Bluff, lautete die Überschrift. Berits Text nahm Rebecka Björkstigs Argumente auseinander, entlarvte die Lügen, die Schulden, die Identitätswechsel. Thomas Samuelsson hatte die Rolle des Helden, der die kriminelle Organisation zerschlagen hatte. Am Haaransatz war eine Narbe zu erkennen, und die Bildunterschrift erläuterte, der Sozialkämmerer sei bei dem Versuch, einen Betrug zu verhindern, misshandelt und niedergeschlagen worden. Weitere Vertreter von Behörden kamen, wenn auch anonym, zu Wort. Sie bestätigten, dass die Stiftung nichts anderes als ein Bluff war. Sie hatten Schwindel erregende Summen an Rebecka Björkstig gezahlt, insgesamt über zwei Millionen Kronen.
Sie konnte nicht weiterlesen, wollte immer nur das Bild anstarren, den Mann. Er war ernst, verbissen, die Haare fielen ihm ins Gesicht. Das Jackett war zugeknöpft, die Krawatte perfekt gebunden, die Hand ruhte auf dem Schreibtisch, seine warme, starke Hand.
Es schnürte ihr den Hals zusammen, o Gott, wie schön er war, sie hatte fast vergessen, wie er aussah. Tränen fielen aus ihren Augen auf die Zeitungsseite.
Wir bekommen ein Kind, flüsterte sie dem Bild zu, einen kleinen Jungen. Ich weiß, dass es ein Junge wird, aber du willst uns nicht haben. Du willst deinen Krawattenknoten und deine Bankdirektorin und dein luxuriöses Haus im Villenviertel.
Sie strich mit dem Finger über das Bild, folgte der Linie seines Kinns, strich ihm über die Haare.
Ich kann ihn nicht auf die Welt bringen, wenn du nicht willst.
Sie legte die Zeitung weg und weinte hemmungslos. Als sie nicht mehr konnte und ihre Tränen versiegt waren, griff sie nach dem Hörer und rief im Söderkrankenhaus an. Sie konnte noch am gleichen Vormittag vorbeikommen.
Ratko überließ nichts dem Zufall. Gestern hatte er das Gelände gründlich sondiert, war mit einer Harke umhergegangen und hatte so getan, als pflegte er die Gräber. In seinen dunklen, anonymen Kleidern war er niemandem aufgefallen. Sein Fiat Uno stand auf dem Banvaktsvägen, gleich neben einem großen Loch im Zaun. Wahrscheinlich hatten Radfahrer es in den Zaun geschnitten, um so die Abkürzung über den Friedhof nehmen zu können. Im Kofferraum hinter der Rückbank des Autos lag eine Sporttasche. Man konnte einen Tennisschläger zwischen der Sportkleidung erkennen. Unter den Kleidungsstücken lagen das Geld und seine schweren Waffen.
Er war nervös, unsicher und kam sich etwas bescheuert vor. Verlor er etwa die Kontrolle?
Er ging zum Haupteingang am Linvävarvägen. Hier waren die Grabsteine groß und alt, die meisten stammten aus dem ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts, Herren mit Titeln, eingerahmt von ihren Familien. Die Umgebung versuchte Stille und Frieden zu verströmen, was angesichts des Autobahnlärms in fünfzig Meter Entfernung jedoch nicht leicht war. Er stützte sich auf die Harke und betrachtete den winterlich verschlafenen Park: zurechtgestutzte Thujas, gewaltige Eichen mit nackten Kronen, knorrige Kiefern, schwarze, schmiedeeiserne Zäune. Der Unterschied zu den Soldatenfriedhöfen in Bosnien war enorm. Er lehnte sich an den Zaun, seufzte, erinnerte sich an die siebziger Jahre in der UDBA, der jugoslawischen Geheimpolizei, an all die Oppositionspolitiker, die sie zum Schweigen gebracht hatten, Deutschland, Italien, Spanien, die Banküberfälle, die Jahre im Gefängnis.
Nie wieder, dachte er frierend.
Langsam ging er zur nördlichen Kapelle, welche die Größe einer Kirche hatte und frisch renoviert war. Braun glasierte Dachziegel glitzerten in der Sonne. Das Gotteshaus thronte auf einem Hügel am hinteren Ende des Friedhofs, und hinter ihm erhob sich ein gigantisches hellblaues Getto aus Mietskasernen: Hagalundsgatan, Blåkulla. Er ging um ein Wäldchen herum und gelangte in den westlichen, ebenen Teil des Friedhofs, Feld 14E. Am Waldsaum blieb er stehen und betrachtete die Grube, Aidas letzte Ruhestätte. Eine unbelaubte Hecke trennte ihr Grab von der Straße.
Auf der anderen Seite der Hecke lagen eine Tankstelle und ein McDonald’s. Er wandte sich ab, nahm seine Harke und ging langsam zu den jüdischen Gräbern hinüber.
Die
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