Paradies
noch warm von ihrer Wärme, von ihrem Schoß.
Hastig stand er wieder auf, zog einen Ordner aus dem Regal und schlug den Personaletat der Verwaltung auf. Die Ziffern tanzten vor seinen Augen. Gereizt schlug er den Ordner wieder zu und ging zum Fenster. Die pittoresken Schilder der Geschäfte grinsten ihn höhnisch an: Zwischen Felsen & Inseln, Vaxholms Tee- & Kräuterhandel.
Er sollte lieber nach Hause gehen. Eleonor hatte das Abendessen sicher schon fertig.
In Richtung Stockholm war der Verkehr wesentlich geringer als in Gegenrichtung. Annika starrte durch die Windschutzscheibe hinaus, die schwedische Vororttristesse umhüllte das Auto. Sobald sie den Stadtkern von Vaxholm hinter sich gelassen hatte, verschwand alles Pittoreske, und Mietskasernen traten an seine Stelle. Hier sieht es aus wie daheim in Flen, dachte sie. Ein Schild zeigte die Richtung nach Fredriksberg an, dort hatte Aida gewohnt. Sie fuhr langsamer und überlegte einen Moment lang, ob sie hinfahren und nach Aidas Adresse suchen sollte, ließ es dann aber bleiben.
Im Autoradio wurde vor überfrierender Nässe gewarnt.
Ich lebe zumindest, dachte sie. Ich darf noch eine Zeit lang mitspielen.
Sie versuchte zum Himmel aufzublicken, aber die Wolkendecke war undurchdringlich. Kein Stern war zu sehen. Niemand konnte sie aus dem Weltall beobachten.
Zurück fuhr sie langsam und wurde überholt, statt selber zu überholen. In ihrem Bauch breitete sich Ruhe aus, und ihre Großmutter lag wie ein Stein aus Trauer in ihrem tiefsten Inneren.
Die Landschaft Richtung Stockholm war ausgesprochen gesichtslos. Die Straße hätte genauso gut von Hälleforsnäs nach Katrineholm führen können. Sie fand einen Sender, der ein BoneyM-Lied nach dem anderen spielte.
Brown girl in the ring, tjalalalala.
Ma Baker, she taught her four sons, mamamama, Ma Baker, to handle their guns. Run run, Rasputin, lover of the Russian queen.
Als sie nach Arninge kam und auf die E 18 hinauffuhr, fing es ein wenig an zu nieseln, aber der Regen erreichte kaum den Erdboden. Sie hörte deutsche Discomusik, bis sie das Gebäude der Zeitung in Marieberg erreichte.
Der Hausmeister war nicht da, sie legte die Autoschlüssel auf seine Theke. Anschließend ging sie nach Hause in die Hantverkargatan, wobei sie den Weg durch den Rålambshovpark und am nördlichen Mälarufer entlang nahm. Es war nasskalt. Die Dunkelheit wurde von Straßenlaternen und Neonreklamen durchbrochen, war aber dennoch kompakt und bedrückend. In Gedanken war sie bei ihrer Großmutter. Was sollten sie nur tun?
Der Krampf in ihrer Magengrube wurde stärker, und ihr Herz klopfte vor Angst.
Als sie zu Hause ankam, war sie ganz durchgefroren und klapperte mit den Zähnen. Das Telefon klingelte, und sie lief mit dreckverschmierten Schuhen in die Wohnung.
Großmutter! Oh, Gott, war etwas mit Großmutter?
Sie schämte sich über die Ruhe, die sie sich vorgegaukelt hatte, und machte sich Vorwürfe, dass sie nicht bei ihr war.
»Ich wollte beim Thailänder vorbeischauen und mir Hähnchen aus dem Wok mit Cashewkernen holen«, sagte Anne. »Willst du auch etwas?«
Annika ließ sich auf den Boden fallen.
»Danke, gern.«
Eine halbe Stunde später tauchte Anne Snapphane mit zwei Stanniolverpackungen in einer Tüte auf.
»Teufel, ist das kalt«, sagte sie, als sie sich die Schuhe abgeputzt hatte. »Diese raue Luft ist tödlich für den Rachen. Ich kann regelrecht fühlen, dass bei mir eine Bronchitis im Anmarsch ist.«
Anne Snapphane neigte wie kaum ein anderer dazu, sich wie ein Hypochonder zu benehmen.
»Zieh Wollsocken an. Solange man warme Füße hat, kann einem nichts passieren, sagt Großmutter immer«, meinte Annika und begann zu weinen.
»Ja, aber, was ist denn los?«
Anne setzte sich neben Annika auf die Couch und wartete. Annika weinte und spürte, dass der Stein in ihrem Magen wärmer und weicher wurde und sich allmählich auflöste.
»Es ist wegen meiner Großmutter«, sagte sie. »Sie hatte einen Gehirnschlag und liegt im Krankenhaus. Sie wird nie wieder richtig gesund.«
»So ein Mist«, erwiderte Anne mitfühlend. »Was passiert jetzt mit ihr?«
Annika schnauzte sich in eine Serviette, trocknete ihr Gesicht ab und atmete tief durch.
»Das wissen wir noch nicht. Es gibt nirgendwo einen Therapieplatz für sie, und niemand hat Zeit, sich um sie zu kümmern, und dabei braucht sie viel Hilfe und muss intensiv rehabilitiert werden. Es wird wohl darauf hinauslaufen, dass ich aufhöre zu arbeiten und sie
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