Paradiessucher
Trainer hat sie dank seiner Kontakte aus dem Westen eingeschmuggelt.
Westen. Dieses Wort versetzt mir einen Schlag in die Magengrube. Immer wieder beobachte ich meinen Freund, der sich notorisch unsicher um die eigene Achse dreht. Er lächelt mich liebevoll an, ahnt nichts, seine dauergewellten Haare sind nass vom Schweiß und kräuseln sich noch mehr, und die Bäckchen glänzen purpurrot im Neonlicht des Tanzsaals. Ich fürchte mich vor ihm, möchte ihn einerseits unendlich lange küssen und ihm andererseits aus dem Weg gehen.
Morgen ist Donnerstag. Donnerstag ist ein besonderer Tag. Ich mag ihn nicht. Ich wünschte, es wäre schon Freitag. Am Donnerstag schließt mein Freund, ein paar Minuten nachdem meine Mutter das Haus verlassen hat, die Wohnung mit seinem nachgemachten Schlüssel und steigt in mein Bett. In Mutters Ehebett. Meine Mutter würde sich schwarz ärgern, wenn sie wüsste, wie wir ihr Ehebett missbrauchen. Dieses geheime Spiel hat er sich ausgedacht. Wir schlafen jedes Mal miteinander, was ich allerdings nie richtig mitbekomme, weil ich noch sehr müde bin. Danach säubere ich mein Nachthemd von seiner »Hinterlassenschaft«, hoffe dabei, dass es keine Flecken auf dem Bettlaken gibt und kuschele mich an ihn. Das ist der schönere Teil des Spiels. Von Spaß am Sex kann bei mir keine Rede sein. Im Gegenteil, es ist unangenehm. Ich halte es irgendwie durch, in der Hoffnung, dass er es schnell hinter sich bringt.
Ich nehme an, dass ich für Sex-Angelegenheiten noch zu jung bin. Sonst kann ich mir nicht vorstellen, warum Menschen es tun. Ich war gerade 15 geworden, als ich mit meinem Freund zusammenkam. Mit allem Drum und Dran. Mutter weiß nichts davon. Die denkt immer noch, dass wir Händchen halten und ins Kino gehen. Damals hatte ich noch nicht einmal meine Periode gehabt, tat so, als kenne ich mich aus, spielte die Erwachsene. Wäre das aufgeflogen, hätte sich mein Freund sicherlich von mir getrennt. Aber mit ein bisschen Farbe in der Unterhose konnte ich ihn hinters Licht führen.
Schade, dass mich mein Freund nie fragt, ob ich Lust habe oder ob es mir gefällt, mit ihm zu schlafen. Ich würde natürlich lügen, ich vergöttere ihn schließlich, keine Frage. Aber irgendwie nimmt er sich gnadenlos, was er braucht, was ich dazu meine, scheint egal zu sein. Er vögelt mich, ohne den geringsten Gedanken darüber zu verlieren, dass ich vielleicht schwanger werden könnte. Seit ich 15 bin. In Deutschland gibt es angeblich Gummis, die verhindern, dass man schwanger wird. Das ist revolutionär. Ich hoffe, dass sie nicht zu teuer sind, ich möchte mir eine Menge davon besorgen. In unserer Mädchenklasse gab es bisher vier Mütter. Sie dachten zuerst, mithilfe der Familie würden sie die vier Jahre bis zum Abi schaffen, aber das war dann doch nicht der Fall. Zwei brachen nach ein paar Monaten ab. Die anderen beiden mussten sich, obwohl sie die Kinder fast an ihre Großeltern abgaben, mit schlechten Noten zufriedengeben. »Pech« nennt man das. Die dumme Pute. Selber schuld, sagen die Arschlöcher dann. Und was dann? Kochen. Stillen. Zu Hause sitzen. Kochen. Fernsehen. Kochen. Stillen. Putzen. Fernsehen. Wie soll man da glücklich sein?
Meine Mutter und ich sprechen nie über Intimes. Schade eigentlich. Wir schweigen, ohne zu ahnen, dass das unser größtes Problem ist. Es verursacht ständig Missverständnisse, Ängste, Einsamkeit und Unwissen. Ich springe gerade ins Leben, und sie warnt mich vor nichts, sie kritisiert. Kritik macht mich bockig, dann höre ich nicht zu. Wieso erzählt sie mir nie, wie ihre Beziehung zu meinem Vater war? Wieso wird sie bei der leisesten Erwähnung dieses Themas so emotional? Alle, die ganze Familie, ist gegen ihn, rächt sich an ihm. Deshalb vergöttere ich meinen Vater. Warum erzählt mir niemand, dass mein Großvater Alkoholiker war und nach einem schweren Suff auf der Toilette einen Schlaganfall hatte? Ich weiß es detailliert von seinen Saufkumpanen. Egal wie oft ich ihn danach frage, das Wort »Alkohol« kommt nie über seine Lippen. Meine Großmutter hat ihre zwei Kinder alleine im Wohnzimmer zur Welt gebracht. Nie erzählt sie mir davon. Stattdessen behauptet sie, dass der Storch die Babys bringt.
Die Trainingstunde ist beendet. Wir unterhalten uns über den nächsten Auftritt. Drobina schaut mich mit leidendem Blick ständig an und denkt genau das Gleiche wie ich. Sie ist meine Komplizin. Ich hoffe, dass es keiner merkt. Mein Freund sitzt neben mir und streichelt
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