Paradiessucher
Wecker klingelt. Es ist sechs Uhr morgens. Ich habe keine Sekunde geschlafen. Meine Augen sind sozusagen nicht vorhanden.
»Leni, wieso bist du wach?«, fragt meine Mutter erschrocken.
»Mutter, wir müssen hier weggehen.«
»Großer Gott, lass mich jetzt damit in Ruhe!«
Zwei Stunden später sitze ich in der Schule, ich kann mich gar nicht erinnern, wie ich hierhergekommen bin. Ich höre auch nicht, was der Lehrer sagt, ich schaue durch ihn hindurch. Wenn er mich fragen würde, welches Fach wir gerade haben, müsste ich ihm antworten: »Ich weiß es nicht, es spielt auch keine Rolle mehr, gnädiger Herr.«
»Drobi, wir hauen ab«, flüstere ich meiner Nachbarin und besten Freundin Drobina zu.
Ohne den Kopf zu mir zu drehen, flüstert sie zurück. »Was?«
»Wir hauen ab.«
»Wer?«
»Mutter und ich.«
»Wohin?«
»Nach Deutschland.«
»Was?«
»Nach Deutschland.«
»Oh Gott.«
»Hm …«
»Wie denn?«
»Wir haben ein Visum nach Deutschland bekommen.«
»Oh Gott.«
Diesmal dreht sie den Kopf zu mir und schaut mich an. Dem Mathelehrer entgeht es nicht.
»Zapletalová möchte uns etwas erklären.«
Drobina steht auf, sagt nichts. Der Lehrer quatscht etwas über seinen Mathestoff, Drobi schüttelt den Kopf und entschuldigt sich dafür, dass sie nicht aufgepasst hat. Mir reicht’s.
»Ich habe sie abgelenkt, Herr Opletal«, sage ich selbstsicher.
»Na sieh mal einer an, Sie waren es also. Was hatten Sie so Wichtiges zu besprechen, Hrózová?«
Ich stehe da und fürchte mich auf einmal vor nichts. Ein herrliches Gefühl.
»Das geht Sie nichts an, Herr Opletal.«
Der Lehrer ist erstaunt über meine Frechheit. Er pflückt mich vor der Tafel auseinander, ich kann keine seiner Fragen beantworten. Mathe eben. Ich bemühe mich auch nicht, etwas zu vertuschen, ich stehe dazu, dass mich seine Fragen nicht interessieren, er ist puterrot. Verpasst mir eine Fünf und lässt mich zurück an meinen Platz gehen. Alle schauen mich mitleidig an, und ich bin glücklich.
Es läutet zur Pause, Drobi dreht sich sofort zu mir: »Was ist in dich gefahren?«
»Nichts.«
»Ihr habt ein Visum bekommen?«
Ich nicke.
»Großer Gott. Beide?«
»Diesmal ja.«
»Und?«
Sie sieht mir in die Augen. Es ist laut in der Klasse, die Mädchen kreischen, als wären sie zwölf.
»Ja, wir werden nicht zurückkommen.«
»Ist das dein Ernst?«
»Absolut, Drobi.«
»Deine Mutter ist einverstanden?«
»Klar.«
»Was tue ich ohne dich? Wer wird neben mir sitzen?«
»Dana vielleicht.« Ich muss unwillkürlich lachen.
»Dana wird es wohl sein, aber ich will doch gar nicht, dass Dana neben mir sitzt«, sagt sie.
»Ist das das Einzige, was dich grämt, wenn ich weg bin?«
»Wenn du wenigstens warten könntest, bis wir das Abi gemacht haben. Nach dem Abi kannst du abhauen, aber doch nicht jetzt. Verdammt. Das ist ja furchtbar.«
Sie schaut zu Boden, ihr Rücken krümmt sich zu einem Buckel. Wir schweigen.
»Das Brot schmeckt mir nicht.« Sie legt die Stulle in die Serviette zurück und faltet sie sorgfältig zusammen. »Nein, ich verstehe dich doch. Ich glaube eh nicht, dass du hierbleiben würdest. So eine wie du bleibt nicht hier. Du willst immer verrückte Sachen machen.«
Ich schaue sie an und überlege dabei, was ich für verrückte Sachen machen möchte. Ich kann mich an keine verrückten Sachen erinnern.
»Mein Gott, das ist ein Schlag, das sage ich dir. Wann kam der Brief?« Sie wischt sich eine Träne von der Wange.
»Gestern.«
Wieso weint sie denn, frage ich mich. Wie wird wohl mein Freund reagieren? Wem sage ich was? Was sage ich überhaupt? Die Klappe halten. Kann ich nicht.
»Gestern also. Das ist lieb von dir, dass du es mir sagst.«
»Drobi, das bleibt aber unter uns, ja?«
»Klar.«
Sie hält wieder inne. Eine Freundin kommt zu uns. Sie möchte sich mit uns unterhalten, wir wimmeln sie ab. Keine Zeit für Plaudereien.
»Schreiben werden wir uns aber schon, oder?«
»Natürlich. Du kannst meinen roten Nicki haben.«
Kaum spreche ich diesen Satz aus, hellt sich ihr Gesicht auf und der ganze Kummer scheint vergessen zu sein. »Echt? Die Deutschen sind alle Motorradfahrer in Overalls. Du musst aufpassen, dass sie dir nicht mit der Kette eins über die Rübe hauen. Alle haben Ketten.«
»Ja, ich weiß«, sage ich.
»Du musst aufpassen.«
»Ja, ja.«
»Willst du mein ›Der, die, das‹-Buch?«
»Nee, danke, meine Mutter hat das Buch zu Hause.«
»Schade, dass du Englisch hattest.«
»Ja,
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