Paradiessucher
Was soll er denn sonst mit mir anstellen. Na gut. So verlässt er mich. Ich stehe da, Leere im Kopf, taumele, stütze mich aufs Geländer und hoffe, dass er weg ist und mich so nicht mehr sieht.
»Wo wohnt er?«, frage ich den Albaner.
»Hier …«, sagt er lächelnd, versteht sehr wohl, warum ich frage, »… und da …«
Eine philosophische Antwort. Es muss ein Geheimnis sein, ein gut gehütetes Geheimnis. In dem berüchtigten Zimmer, in dem ich mir täglich meine Zigarette hole, wohnt er also. Es ist nun noch herrlicher und aufregender, dorthin zu gehen, und gleichzeitig macht es mich zur Kettenraucherin. Natürlich ist er meistens mit seinen Kumpanen unterwegs und keiner weiß oder will verraten, wo er sich aufhält.
Wenn ich an Pavel denke, meinen Freund aus Pùerov, der mit Markéta Frýbortová geht, worüber ich so fassungslos und unglücklich war, so kommt er mir jetzt vor wie ein kleiner Junge. Mit Kinderaugen. Keine Spur von Selbstbewusstsein im Vergleich zu diesem Jugoslawen. Ein armes, kleines Würmchen mit X-Beinen und popeligen Geschäftchen. Ein piepsiger Angeber mit dünnen, dauergewellten Haaren und dämlichem Vokuhila-Schnitt. Ein Provinzler. Ein Witz. Müssen Frauen immer so blind sein? Benebelt und unangebracht emotional?
Marian ist erwachsen. Marian trägt Tattoos. Marian hat Naturlocken und keine Geheimratsecken. Marian verdient Geld. Wenn auch schmutziges Geld. Marian hat überall Freunde und Komplizen, und Marian spricht Deutsch. Er verfügt über einen Schatz an Erfahrungen wie kein anderer im Lager, er wird von allen akzeptiert und geliebt. Er steht in der Lagerhierarchie an oberster Stelle. Er ist der König, Kaiser, Papst, Könner, der Wissende, der Boss. Wenn das nicht sexy macht, dann weiß ich auch nicht.
EINE KOCHSENDUNG IST SPANNENDER
»Wollen wir uns ein Bötchen leihen und auf den See fahren?«, fragt er mich in einem Kauderwelsch aus Tschechisch, Slowakisch und Jugoslawisch. Eine Woche später. Aus dem Nichts. Ich sehe ihn erst zum dritten Mal, obwohl ich täglich nach ihm Ausschau halte. Mein Herz donnert, als er mir diesen Satz entgegenwirft wie ein Lasso. Jetzt zählt meine Entschlossenheit!
»Oh ja, gerne. Wir können uns gerne ein Bötchen leihen«, sage ich lässig in meinem Kauderwelsch.
Es regnet leicht. Ich ziehe mir meine gestohlene Regenjacke an, aus einer kleinen Boutique in der Bad Tölzer Fußgängerzone. Auf eine Mütze lasse ich mich nicht ein, obwohl Mutter darauf besteht. Es wäre zu riskant. Ich trage langes braunes Haar mit Strähnchen, wie es die Mode in der Petra vorschreibt. Die Strähnchen hat mir meine Mutter gefärbt. Sie betrachtet mich als ihr Versuchskaninchen. An meinem Kopf wurden bereits alle Haarfarben der Welt ausprobiert. Die blonden Strähnchen sind diesmal zu stark geraten. Es sieht künstlich aus, ich korrigiere es hin und wieder, indem ich sie herausschneide. Schade, dass man die Löcher so deutlich sieht, merkwürdige, in den Himmel ragende Stummel. Eine Mütze könnte die Lage der Stummel verbessern, aber auch verschlechtern. Ein Vabanquespiel. Ich stecke mir zwei Haarspangen in die Frisur und hoffe, dass ich nicht kindisch wirke. Wie eine Jungpionierin.
Ich habe mich ordentlich geduscht. Er könnte es durchaus wagen, mir an die Wäsche zu gehen, und ich darf auf keinen Fall einen schlechten Eindruck hinterlassen, denn dass ich mit ihm schlafen will, stand schon bei der ersten Begegnung fest. Für mich zumindest.
Die Oktoberwolken hängen tief in der Luft und drücken die Landschaft nieder. Über dem Königssee schlängelt sich dichter Nebel, und die Stille wirkt gespenstisch. Es ist kühl. So stelle ich mir England vor. Marian paddelt, und ich sitze ganz unschuldig und zusammengekauert im Heck des Bötchens. Eigentlich verläuft die Fahrt sehr langweilig. Er ackert, präsentiert heroisch seine Muskeln an den Oberarmen, indem er seinen Pullover auszieht. Es ist albern, bei der Eiseskälte. Ich mag es trotzdem, sitze, schweige und versuche, meine Unsicherheit mit Desinteresse zu überspielen. Hin und wieder zeigt er mir Sehenswürdigkeiten, die sich vom Boot aus darbieten. Ich kenne sie in- und auswendig. Er sicherlich auch. Wir leben seit Monaten in diesem Pupsort. Trotzdem heuchle ich Überraschung und Dankbarkeit für die wertvollen Informationen. Er dagegen spielt den gebildeten Geografielehrer. Zwei Irre.
Wahrscheinlich macht er diese Tour nicht zum ersten Mal, wahrscheinlich gab es vor mir schon viele Damen. Wahrscheinlich
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