Paradiessucher
darf. Einem, der zehn Frauen an jedem Finger haben kann.
Marian ist aus Jugoslawien geflüchtet und wohnt angeblich viel länger im Lager als Mama und ich. Alles um ihn ist merkwürdig. Weder muss er sich um zwölf Uhr mittags melden, noch bewohnt er ein Zimmer im Sporthotel. Warum ist er dann hier, frage ich mich.
Ich nehme an, dass er was Illegales treibt, sonst würde ich etwas darüber erfahren. Aber jeder schweigt wie ein Grab. Die frisch aus Jugoslawien angekommenen Flüchtlinge, die von Tuten und Blasen keine Ahnung haben, eignen sich prima für seine Schmuddelgeschäfte. Er benutzt sie, die Neuankömmlinge, nimmt sie als Werkzeug, gibt ihnen Aufgaben und verspricht eine gute Belohnung. Ich wette, dass es so ist.
Abgesehen von seinem blendenden Aussehen, denn er ist wirklich hübsch, schafft er es mit seiner Art, dass alle weiblichen Sporthotel-Bewohnerinnen – das Alter spielt keine Rolle – in ihn verknallt sind. Es ist verblüffend. Selbst die verbissene Chefin verwandelt sich in seiner Gegenwart in Marilyn Monroe, jedenfalls so, wie sie sich das vorstellt. Auch Mutter und ich werden zu Püppchen, wenn nur von ihm gesprochen wird.
Heute ist der fünfte Tag nach Mutters Geburtstag, der fünfte Tag, an dem ich ihn nicht zu Gesicht bekommen habe. Wahrscheinlich sehe ich ihn nie mehr, denke ich, als ich unerwartet auf der Treppe, im Zwischenstock, an einer kaum frequentierten Stelle des Hotels, mit ihm zusammenstoße. Ich erschrecke entsetzlich. Das Herz sackt mir in die Hose. Die hässliche und kahle Ecke bietet für ein spontanes Rendezvous die besten Voraussetzungen. Niemand sieht uns. Leider hyperventiliere ich, kann mich kaum aufrecht halten, weil die Knie so zittern. Ein schrecklich schöner Moment. Marian bleibt stehen. Ich natürlich auch. Dann sagt er etwas auf Jugoslawisch, was ich dummerweise nicht verstehe. Sein Dialekt klingt anders als der von Maria und Jasna.
»Was? Das habe ich nicht verstanden? Wie meinst du das? Kannst du langsamer sprechen?« Das sind die meistgestellten Fragen. Ständig muss ich mir die Blöße geben einzugestehen, dass ich nichts kapiere. Jeder Dialog ist ein Rätseln oder Vermuten. Während der Gespräche stehe ich rum, spiele eine desinteressierte Mumie und bin froh, wenn ich wieder verschwinden darf. Obwohl ich gerne kommunizieren würde. Nur mit den Tschechen kann ich reden, wie mir der Schnabel gewachsen ist.
Nein. Diesem Theater bin ich bei diesem Mann nicht gewachsen, ich tue also, als verstünde ich alles einwandfrei. Ein fataler Fehler, stelle ich fest, als er weiterspricht. Jetzt stecke ich in der Klemme, ich habe am Anfang gelogen, also muss ich weiterlügen und gebe ihm so zu verstehen, dass ich nicht imstande bin, zu mir zu stehen. Ich bin eben noch dumm, bin »dazwischen«. Ich antworte nicht, nicke dämlich, er hätte mich auch nach Klopapier fragen können. Ich versteife mich immer mehr. Er will gehen. Ich zucke zusammen und flüstere ein kleines Sätzchen.
»Ich verstehe dich überhaupt nicht. Nichts.«
So. Er lächelt unwiderstehlich, tritt ganz nah an mich heran und umarmt mich. Mein Gesicht bohrt sich in seinen muskulösen Arm. Ich rieche seinen Duft, den Duft seiner Haare, seiner Haut, seines Atems. Ich mag es. Da er nicht viel größer ist als ich, könnte ich ihm gerade in die Augen schauen, wenn ich mich aufrichten würde. Wenn ich den Mut dazu hätte. Ich schmelze, bin von Kopf bis Fuß verliebt, so verliebt, als hätte ich vorher nie geliebt, als überkäme mich dieses einzigartige Gefühl zum ersten Mal. Ich richte mich auf, weil er es will, seine Augen sind wie zwei Seen, die mich anstarren, sie wecken in mir ein feuriges Lust- und Liebesgefühl, und hätte er in diesem Moment um meine Hand angehalten und verlangt, dass ich meine gesamte Zukunft nach ihm ausrichte, er hätte keine andere Antwort als »Ja« von mir erhalten.
Die Lähmung hält an, ich schweige weiter, lächle verkrampft, lache sogar, ohne etwas witzig gefunden zu haben. Er merkt natürlich, wie durcheinander dieser naive Teenager ist, wie sein Herz pocht und wie er mit ihm tun und lassen kann, was er will. Er nutzt es aus. Warum auch nicht? Er nutzt die Gelegenheit, indem er sanft meinen Hinterkopf in seine Hand nimmt und mich küsst. Ohne um Erlaubnis zu bitten. Wir kennen uns ja kaum. Seine Lippen sind warm und weich, leicht geöffnet. Dann murmelt er etwas, fordert mich zu irgendetwas auf, ich schweige, wie immer, er muss glauben, mein IQ sei minus fünf. Er geht.
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