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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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das Treppchen empor und drückte den Zeigefinger auf den metallenen Knopf mit dem Klingelsymbol. Ein Beamter hinter der dunkelblauen Scheibe sortierte Karteikarten. Panke war es nicht. Der und sein Chef waren pensioniert und nach Jahrzehnten inventarhafter Anwesenheit auf Nimmerwiedersehen aus der aktiven Justiz ausgeschieden, vermutlich vor der gesetzlichen Zeit. Über den kahlen Stellen, die die beiden hinterließen, war das Bürokratenkraut so schnell gewuchert wie Vogelmiere über nackten Marschboden, niemand weinte ihnen eine Träne nach.
    Schlüter wartete geduldig, bis es an der Tür schnarrte, und zog sie auf.
    »Guten Tag, Schlüter mein Name. Rechtsanwalt. Ich wollte zu Herrn Cengi«, sprach Schlüter mit krummem Rücken durch die Sicherheitsscheibe.
    »Ausweis?«, brummelte der dickliche Mann.
    »Nee. Wieso Ausweis?«, fragte Schlüter.
    »Tut mir leid. Dann kann ich Sie nicht reinlassen.«
    »Ist das wegen der Identifikation?«, fragte Schlüter. »Irgendeiner wird mich schon noch kennen hier drin.« Langsam gewöhnten sich seine Augen an das Dämmerlicht. Der Mann sah hinter der dunklen Scheibe mit seinem Schnurrbart wie ein Türke aus. »Vielleicht sagen Sie drinnen mal Bescheid.«
    »Nein. Tut mir leid. Hier kennt Sie keiner. Zu wem wollen Sie?«
    »Zu Cengi, Heyder Cengi«, wiederholte Schlüter und buchstabierte den Namen.
    »Mal sehn. Mit C, sagen Sie?« Der Mann verzog das Gesicht und blätterte schließlich in einem hohen Kasten pappiger Karten, von denen er eine herauszog. »Hier«, freute er sich. »Cengi. Mit C. Haben wir. Stehen Sie aber nicht drauf. Sie brauchen eine Besuchserlaubnis, anders kommen Sie hier nicht rein. Und den Ausweis natürlich.«
    Die idyllischen Zeiten waren vorbei. Früher genügte Pankes Gesichtskontrolle: zwei Menschen, die sich kannten und wussten, was zu tun war. Doch menschliches Handeln konnte nur zu menschlichem Versagen führen.

    Schlüter drehte um und umrundete das große Gebäude, ging über schlaglöchriges Kopfsteinpflaster an verfallenen Fassaden unsanierter Häuser und einem Spielplatz vorbei, den die kinder- und enkellosen Anwohner als Hundeabort benutzten.
    Der Eingang zur Staatsanwaltschaft befand sich auf der anderen Seite des Gevierts. Hier war die Sprechscharte so niedrig, dass man auf den Knien reden musste.
    Die Staatsanwältin, der die Paragrafen das Gesicht noch nicht verdorben hatten, fand Schlüter am Ende eines Ganges im dritten Stock des Gebäudes. Er legte ihr Cengis Vollmacht vor, ein zerknittertes Stück Papier, erklärte den Sachverhalt und fragte, ob er die Ermittlungsakten sogleich mitnehmen könne. Es fehlten noch die Bildbände zur zweiten Akte, erwiderte die Staatsanwältin, sie erwarte diese morgen oder übermorgen von der Kriminalpolizei, ob Schlüter die unvollständigen Akten mitnehmen wolle? Nein, dann würde er zunächst ein erstes Informationsgespräch mit Cengi führen, die Akten solle man ihm erst übersenden, sobald alles komplett zusammengestellt sei. Das wurde ihm zugesagt.
    Schlüter wartete, während die Staatsanwältin von ihrer Sekretärin die Besuchserlaubnis ausstellen ließ. Aus dem Fenster konnte man quer über den Innenhof zum Schwurgerichtssaal blicken, dem Ort, an dem schon Jahrhunderte Haft verhängt worden waren. Dort würde er also bald wieder verhandeln. Wer war jetzt eigentlich der Vorsitzende der 2. Großen Strafkammer?
    »Manchmal übertreiben die da unten das mit der Förmlichkeit«, störte die Staatsanwältin Schlüters Gedanken und drückte ihm die fertige Besuchserlaubnis in die Hand. »Aber es ist vorgekommen, dass da Anwälte rein sind und den beigeordneten Kollegen Mandate abgejagt haben.«
    Die Anwaltsschwemme überflutete auch Hemmstedt.
    »Ach, nicht wegen der Sicherheit?«, fragte Schlüter.
    »Nicht dass ich wüsste. Sicherheitsprobleme hatten wir noch nie, bis auf – ja die Kollegen haben mir von einem Ausbruch erzählt, aber das war vor meiner Zeit. Einer von den dreien, die damals raus sind, soll übrigens immer noch auf freiem Fuß sein, komisch nicht? Ganz ungewöhnlich. Normalerweise werden die ja alle rückfällig und dann kriegt man sie. Aber – was rede ich dummes Zeug. Ich rufe unten an, damit man Sie reinlässt.«
    Schlüter grinste in sich hinein. Er erinnerte sich an den Ausbruch vor zehn Jahren. Sogar der Name des glücklich Geflohenen fiel ihm wieder ein, er ließ sich leicht merken: Müller. Was aus dem wohl geworden war?
    Während Schlüter den Justizkomplex ein zweites

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