Paragraf 301
der Hemdtasche und warf es auf den Tisch: der Haftbefehl. Schlüter versuchte, ihn zu lesen, während Cengi, die Fäuste geballt, hin- und hertigerte zwischen Tür und Tisch.
»Sie haben meine Spuren auf – Xal Velis Kopf gefunden!«, rief Cengi. »Und meine Fußspuren in seiner Küche und sein Blut in dem Waschbecken, in dem ich mir die Hände gewaschen habe, und meine Fingerabdrücke am Wasserhahn und an seiner Tür und …!«
Cengi warf sich wieder auf den Stuhl, hieb das Gesicht zwischen die Unterarme.
»Aber …«
»Nichts aber!!«, schrie Cengi. »Ich bin der Mörder von Xal Veli, ich, ich, verstehen Sie das nicht??!«
Die Tür zum Flur flog auf und das Madengesicht, das Schlüter hereingelassen hatte, stand in der Füllung.
»Nu mal aber ’n bisschen ruhig mit den Geständnissen, mein Lieber«, sagte er und tat zwei große Schritte. »Sonst müssen wir dich erst mal nebenan einsperren.« Er legte Cengi eine schwere Boxerfaust auf die Schulter.
Schlüter fuhr hoch, griff mit seinen schwielenlosen Pastorenhänden nach dem Oberarm des Wärters und bat mit seiner ruhigsten Stimme: »Wir kommen bestens allein zurecht – nicht wahr, Herr Cengi?«
Cengi nickte. Der Wärter brummte unzufrieden und verschwand, die Tür hinter sich schließend.
»So«, sagte Schlüter. »Und jetzt in Ruhe, verdammt noch mal! Ihr Onkel ist tot, dem können wir nicht mehr helfen, aber ich habe keine Lust auf die Nachricht, dass Sie in einem türkischen Gefängnis verrecken! Er hat mich beauftragt, Ihnen zu helfen, und das werde ich tun!«
Er befragte Cengi systematisch über alles, was mit dem Mord an Veli Adaman im Zusammenhang stehen konnte. Cengi hatte seinen Onkel nicht mehr gesehen, seit er bei Heinsohn wohnte, also seit dem 22. November letzten Jahres, nur einmal noch war er kurz erschienen, um Cengi die Vollmacht für Schlüter unterschreiben zu lassen. Schlüter fragte nach möglichen Feinden Adamans, und Cengi berichtete, dass und warum Adaman bei seinem Mitbewohner Söhl verhasst war, und er erzählte vom Besuch der PKK-Leute.
»Und außerdem hatte er Angst vor den Sivas-Leuten und vor den Grauen Wölfen.«
»Sivas?«
Während Cengi von den Geschehnissen in Sivas am 2. Juli 1993 erzählte, zog ein eiserner Ring Schlüters Brust zusammen, und nachdem Cengi auch von Adamans Begegnung mit dem Attentäter in Hemmstedt berichtet hatte, war sich Schlüter sicher: Er hatte auf der falschen Seite gestanden. Die ganze Zeit. Diese Ahnung, die er in sich getragen hatte, seit jenem Abend im Bosporus, als er vom Völkermord im Dersim erfuhr, nein, schon seit Adaman bei ihrer ersten Begegnung berichtet hatte, man habe ihn in Sivas fast umgebracht: Jetzt kannte er den Grund. Am 7. März war der verlegte Verkündungstermin in Sachen Gül gewesen. Angela hatte das Ergebnis abgerufen: Schlüter hatte den Prozess gewonnen, der Auslieferungsantrag war abgelehnt worden. Weil er sich nicht recht über das Urteil freuen konnte, hatte er darauf verzichtet, die gute Nachricht persönlich zu übermitteln, und Angela beauftragt, Kaya anzurufen. Das schriftliche Urteil war zwar noch nicht zugestellt, aber das Mandat war bis auf die Kostenabrechnung faktisch erledigt, und er hatte versucht, die Sache zu vergessen.
»In Sivas haben sie versucht, ihn umzubringen«, wiederholte Cengi. »Und einer der Täter lebt hier in Hemmstedt. Wenn er meinen Onkel erkannt hat, als sie sich begegnet sind, dann …«
»Sie meinen, Gül wollte einen Zeugen aus dem Weg räumen?«, fuhr es Schlüter heraus.
»Gül!?«
Schlüter wurde heiß und er spürte, wie er rot anlief. Er ächzte, stützte den Kopf in beide Hände, unter denen augenblicklich der Schweiß aus den Poren brach.
»Sie wissen, wie der Mann heißt!?«
Langsam hob Schlüter seinen Kopf und nickte. »Das hätte ich Ihnen wohl gleich sagen sollen. Ich habe ihn verteidigt. In seinem Auslieferungsverfahren. Ich habe gewonnen, ich wusste nicht, dass …« Nein, dachte er. Ich habe es ihm nicht gesagt, weil ich gehofft habe, dass es nichts miteinander zu tun hat.
Cengi hatte sich langsam erhoben. »Sie arbeiten also für beide Seiten, Sie arbeiten für die Faschisten, für die Grauen Wölfe, für die, die unsere Leute in Sivas umgebracht haben, und dann kommen Sie hierher und wollen mich verteidigen, Sie sind ja ein Verräter!« Cengis Stimme war mit jedem Wort lauter geworden.
»Herr Cengi«, begann Schlüter. »Ich schwöre Ihnen, ich habe nicht gewusst, dass Gül Ihren Onkel
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