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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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Stuhl sacken. »Danke«, sagte er schlapp. »Wenn Sie irgendwas brauchen dafür – geben Sie mir Bescheid. Sie können auch Geld von mir kriegen. Und wenn es um das Aufenthaltsrecht geht: Ich komme für ihn auf. Bei mir kann er wohnen, klar?«
    Als hätte ihm das Gespräch die letzte Kraft geraubt, war Heinsohn klein geworden. Er stand auf, sehr langsam, murmelte einen Abschiedsgruß und ging.
    Schlüter öffnete das Fenster und atmete tief durch: Adamans Auftrag. Es konnte losgehen. Die verdammte Warterei hatte ein Ende. Er hatte es eilig, griff zum Telefon und ließ es die eingespeicherte Nummer des Hemmstedter Kommissariats wählen. Man hatte Heyder Cengi tatsächlich in der letzten Woche am Mittwochabend verhaftet und Donnerstag dem Haftrichter vorgeführt. Er befand sich jetzt in Untersuchungshaft in Hemmstedt, nur ein paar hundert Meter entfernt.
    Schlüter kontrollierte seinen Terminplan. Er hatte noch zwei Stunden Zeit bis zum nächsten Mandanten.
    Er steckte den Völkermordstein ein und brach auf.

29.
    Als Schlüter sich auf halber Treppe befand, wurde ihm bewusst, wie lange er nicht an dem Ort gewesen war, den er sich anschickte aufzusuchen. Seit der Strafsache August von Borstel mied Schlüter die Strafjustiz und seit reichlich vier Jahren lehnte er strafrechtliche Mandate grundsätzlich ab. Ein guter Strafverteidiger musste dem Richter, im übertragenen Sinn, auf den Tisch scheißen können, dazu provokant grinsend, und das gelang nur, wem außer dem eigenen Fortkommen alles andere gleichgültig war, insbesondere das Schicksal der Mandanten. Oder dem, der an Paranoia litt und glaubte, alle Staatsanwälte und Richter seien entweder dumm oder böse oder beides. Wenn man lange genug in diesem Geschäft tätig war, stellte sich dieser Glaube fast von allein ein, als eine besondere Art psychischer Berufskrankheit des Strafverteidigers. Demgegenüber glaubten Strafrichter spätestens nach zehn Berufsjahren, alle Angeklagten seien Lügner, alle Polizisten wahrheitsliebend und alle Verteidiger überflüssig. Ein Strafverteidiger, der seinem Mandanten die Vermutung der Unschuld erhalten wollte, musste alle Register der Strafprozessordnung ziehen. Das bedeutete: viele Befangenheits- und noch mehr Beweisanträge, endlose Verfahren, schlaflose Nächte. Damit machte man Eindruck bei den Mandanten und steigerte seinen Ruhm in Straftäterkreisen. Aber was kam dabei heraus? Man zog sich den Zorn des Gerichts zu und sorgte für härtere Strafen. Oder, was schlimmer war: Der Mandant wurde freigesprochen und bekam Zeit und Gelegenheit zur nächsten Tat. Denn wirklich Unschuldige verfingen sich nur selten im Netz der Justiz; allerdings hatte Schlüter auch das schon erlebt. Im Kleinlichen funktionierte die Strafjustiz leidlich.
    Nach der Sache August von Borstel hatte Schlüter nur langsam zur Normalität und zu gepflegten zivilrechtlichen Streitereien zurückgefunden. Und nun stand ein Rückfall auf dem Programm.
    Die Märzsonne wärmte die fachwerkenen Fassaden der restaurierten Stadthäuser. Schlüter folgte, die Fußgängerzone verlassend, der abfallenden Gasse, in der es ein Prothesengeschäft für den Erotikbedarf gab – zwei Schritte lang der sprachlose Vaginalmund einer Gummipuppe –, und näherte sich den Justizgebäuden. Zwischen Amts- und Landgericht eingeklemmt, befand sich die Justizvollzugsanstalt, der älteste Teil der Gemäuer. Seit Schlüters letzter Strafsache hatten sich die Zeiten geändert. Der Eingangsbereich der JVA war umgebaut worden. Die geheimnisvolle alte Eichentür, an der man früher schellte, dann zurücktrat und auf den gespenstisch schlurfenden Schritt des Wachtmeisters Panke horchte, wartend auf den kleinen Augenblick völliger Stille, in dem man durch den Spion bespäht wurde, bis endlich mittelalterliches Schlüsselklirren klang, die Tür sich mit leisem Saugen öffnete und Pankes grinsendes Gesicht madenbleich aus dem Dunkel auftauchte, um dann hinabzusteigen in den Bauch des Bösen, in die schwülen Sümpfe von Laster und Verbrechen – all das war vorbei, diese morbide Romantik war Vergangenheit. In den Winkel zwischen Land- und Amtsgericht hatte man eine neue dunkel-gläserne Eingangsfront gebaut, eine funktionale Fassade, der man nicht mehr ansah, ob sich dahinter ein Fahrkartenschalter, ein Versicherungsbüro oder ein Gefängnis verbarg. Wie mochte es jetzt drinnen aussehen, nach diesen vier, fünf Jahren, in denen er viele Haare und Illusionen verloren hatte?

    Schlüter stieg

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