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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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Mal umrundete, jetzt auf der anderen Seite, vorbei an der Parteizentrale der SPD, einem dreistöckigen Haus mit Rundturm, auf dem sich ein Wetterhahn im Wind drehte, dachte er an Müllers Kumpel von damals, Paul Clever, den Christa und er nun schon seit mehreren Wochen beherbergten. Seither konnte sich Schlüter nicht mehr entspannen. Er konnte vor allem nicht mehr lesen, schon gar nicht Björnsson entziffern, wenn das so weiterging, würde er bis zum Ende des Jahres brauchen für die kurze Erzählung. Der Tee schmeckte anders, man konnte sich in dem Alter nicht mehr auf das psychische Umzingeltsein einer Wohngemeinschaft umstellen. Clever war das egal, sein Arm war abgeheilt und seine Depression verschwand zusehends, denn er hatte eine Aufgabe: Er überschüttete seine Gastgeber mit Dankbarkeit und übernahm den Kochdienst. Wenn Schlüter abends nach Hause kam, wartete der gedeckte Tisch, Clever rotierte mit dem Küchenhandtuch vor seiner schmalen Brust zwischen Küche und Esszimmer, wetzte Messer, rührte, briet und schmorte mit fanatischer Begeisterung, servierte mediterrane Fisch- und Fleischgerichte, norddeutsche Hausmannskost und fernöstliche Spezialitäten. Nie in seinem Leben hatte er über mehr als eine Kochplatte verfügt, abgesehen von den Jahren im Hemmstedter Knast, in denen er den Chefkoch gemacht und sich den Kaffee auf der Zelle mit einem aus Rasierklingen gefertigten Tauchsieder zubereitet hatte. Das intime Gespräch mit Christa fiel aus und musste zu später Stunde im Bett stattfinden. Aber Clever, das stand fest, war nach wenigen Tagen der Alte: lang, dünn, mit winzigem Hintern, fast durchsichtigen Ohrwedeln, gut gelaunt und kompetent in allen Lebensfragen.
    Gleich am ersten Abend hatten sie über Veli Adaman gesprochen. Clever war von seinem Tod tief getroffen, er hatte immer wieder traurig den Kopf geschüttelt, aber gleichzeitig half ihm diese Nachricht, seine eigene Lebensmüdigkeit zu vergessen. Er riet Schlüter, wegen Adamans Tod keinen Kontakt zur Polizei aufzunehmen; es würde dem Toten nicht helfen. Clever kannte Adaman vom gemeinsamen Job in der alten Kaserne. Sie arbeiteten in den Mannschaftsblöcken, die ein Architekt mit seiner Ein-Mann-GmbH & Co KG gekauft hatte. Während Adaman für den Marder Heribert Witt die Wände putzte, wenn der Obstbauer Holthusen einmal keine Arbeit für ihn hatte, wurde Clever vom Architekten direkt bezahlt.
    Und Clever hatte von der Möbelaktion im Schloss Lieth berichtet, wie er gemeinsam mit Adaman die Möbel zu einem Hof in Krummenhörn gebracht hatte, einem Kaff, das aus einer Reihe Häuser am Elbdeich bestand. Adaman kannte den Hof, denn er hatte, wie er Clever erzählte, in seiner ersten Zeit in Deutschland dort gearbeitet, als er noch nicht so gut Deutsch konnte, aber der Dienstherr war Adaman den Lohn für zwei Monate schuldig geblieben. Adaman hatte seiner Familie im Dersim kein Geld schicken können und war fortgegangen, und nach mehreren Zwischenstationen hatte er bei Holthusen im Engelsmoor südlich von Hollenfleth eine neue Bleibe gefunden. Die Scheune aber, in die sie die Möbel geschafft hatten, gehörte zum Gut Rothenfels des Giselbert von Brunkhorst-Rothenfels, einem Adligen von ritterlichen Gnaden. Schlüter hatte sich das stumm angehört und nicht verraten, was der Marder Heribert Witt ihm erzählt hatte, das fiel unter die Verschwiegenheitspflicht.

    Nun war Schlüter wieder am Eingang der JVA angekommen und wurde eingelassen. Er kontrollierte seine Uhr; eine Dreiviertelstunde hatte ihn die Anwaltsschwemme gekostet.
    Er durchschritt den Metalldetektor, der schon vor zehn Jahren arbeitslos im Flur der Verwaltung gestanden hatte. Endlich hatte er seinen Einsatz gefunden. Er piepte unregelmäßig wie eine Schar ängstlicher Entlein, alarmierte aber niemanden.
    »Gehen Sie da rechts rum«, erklärte der Beamte mit gekrümmtem Zeigefinger.
    Schlüter folgte dem gebogenen Gang und stand plötzlich vor Pankes alter Eichentür. Sie war geöffnet. Aber nicht Panke empfing ihn, jovial berlinernd, sondern ein mittelgroßer Mann mit dem gleichen ausdrucklosen Gesicht unter rasiertem Schädel, mit dem er wohl am Morgen aufgestanden war. Ohne ein Wort drehte er sich um und ging voran, die wenigen Meter bis zur Gittertür, um Schlüter durchzuschließen.
    »Gehen Sie da rein«, befahl der Vollzugsbeamte mit Roboterstimme. »Ich hol ihn.«
    Schlüter befand sich in dem hinteren der beiden Besuchsräume. Der gleiche kahle Raum wie früher. Der gleiche

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