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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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ersten Gang einzulegen und langsam hinterherzufahren.
    Plötzlich durchstieß ein Polizeiwagen mit eingeschaltetem Blaulicht die Kolonne vor Heinsohn und raste rechts auf einem Feldweg entlang, querab. Heinsohn scherte aus, ließ seinen Wagen stehen und hastete die Böschung jenseits des Fahrradweges hinauf. Er stand am Rand eines Winterroggenfeldes, über das ein Mann davonrannte, die schräge Vorfrühlingssonne im Rücken, einer schmalen Reihe Büsche entgegen, hinter der man nur den Horizont und seine graublauen Wolkengebirge sah. Das grüne Polizeiauto bog vom Feldweg ab, pflügte zwanzig Meter durch die winterliche Krume und blieb stecken. Die Türen flogen auf, zwei Uniformierte sprangen heraus, folgten dem Flüchtenden.
    Heinsohn ballte die Fäuste. Er atmete auf, als er sah, dass die Polizisten es nicht schaffen würden. Cengi tauchte in die Büsche und war verschwunden.
    Heinsohn blieb unschlüssig stehen, beobachtete, wie die Polizisten die Landschaft mit ausgeklappten Armen vermaßen, nach unten zeigten.
    Die Kiesgrube! Verdammt, Heyder musste in die Kiesgrube gesprungen sein, den steilen Hang hinunter, zwanzig Meter und mehr! Einer der Männer lief zum Auto zurück, der andere hielt mit verschränkten Armen Wache. Die Kiesgrube war eine Falle, die steile Wand würde Heyder nirgendwo wieder heraufkommen, es gab nur einen einzigen Ausgang. Sie würden ihn fangen!
    Das wollte Heinsohn sich nicht mehr ansehen. Was sollte er tun? Warten konnte er hier nicht länger, er fiel nur dumm auf. Helfen konnte er auch nicht.
    Heinsohn begriff, dass er allein nach Hause fahren würde. Mit geballten Fäusten drehte er sich um, stolperte an der steilen Böschung, knickte um, ein Wolf biss ihm in den Fuß, schlug seine Zähne in die Knochen und Sehnen, Heinsohn taumelte zu seinem Wagen, ihm wurde schwarz vor Augen, aber er schaffte es noch auf den Sitz. Keuchend hielt er sich am Lenkrad fest, kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn und es schossen Bilder durch seinen Kopf von seinem Hof, der in Flammen stand.
    Der Stau hatte sich aufgelöst. Zwei Polizeiwagen standen noch am Straßenrand. Heinsohn wartete, bis der Schmerz in seinem Fuß zu einem dumpfen Brummen abgeklungen war, und startete den Wagen. Wieder überfiel ihn die Vision, sein Hof könnte abgebrannt sein. Zum ersten Mal empfand er keine Angst bei diesem Gedanken. Vor der Arbeit aber fürchtete er sich.
    Er fädelte sich in den Verkehr ein und gab Gas. Jetzt war er wieder allein wie die Jahre zuvor.

28.
    Heinsohn war ein kräftiger Mann, dennoch wirkte er mager, als er, einen merkwürdig spitzen Bauch vor sich herschiebend und Gummistiefel an den Füßen, mit der grünen Mütze in der Hand in Schlüters Arbeitszimmer trat, seine verfilzten Haare über der Glatze zurechtschob und einen leisen Gruß murmelte. Er sonderte einen strengen Geruch von Kuhstall, Verwahrlosung, Angst, Trotz und Trauer ab.
    Angela hatte ihm einen Termin zu einer ungewöhnlichen Zeit gegeben. Schlüter hätte an diesem Montagvormittag, den 20. März 1995, lieber seine liegen gebliebene Post aus der letzten Woche bearbeitet; in der Grabsteinsache lag der Beweisbeschluss vor, hatte er gesehen.
    Heinsohn setzte sich schnaufend auf den Besucherstuhl. »Ich komme wegen einem Türken«, begann er, und als er das gesagt hatte, wusste Schlüter schon Bescheid. Seit er Anfang Februar vom Tod Veli Adamans erfahren hatte, wartete er darauf, dass Heyder Cengi endlich auftauchen würde.
    Seit dem 22. November letzten Jahres habe er einen jungen Türken namens Heyder Cengi bei sich auf dem Hof beherbergt, erzählte Heinsohn leise und, ohne Schlüter in die Augen zu sehen. Der Heyder habe ihm viel Arbeit abgenommen, er sei der beste Arbeiter gewesen, den er je gehabt habe, er könne mit Tieren umgehen wie kein zweiter, schon nach kurzer Zeit habe er alle Kühe mit Namen gekannt, Heyder habe Bauernblut in den Adern, und zwar, wenn er ehrlich sein solle, »mehr als ich«. Ein stiller Bursche sei das, er habe wohl immer Angst gehabt, dass er verhaftet und abgeschoben werde, denn dass er »nicht ganz legal« in Deutschland gewesen sei, das habe man sich denken können; Heyder habe nie fortwollen, er sei mit ihm, dem Bauern, die ganze Zeit allein auf dem Hof gewesen, und das sei ja nicht normal, obwohl er, Heinsohn, ja auch seit – an dieser Stelle räusperte Heinsohn sich, als wolle er sich der Festigkeit seiner Stimme vergewissern –, seit Jahren nicht anders lebe und kaum vom Hof komme, sogar die

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