Paragraf 301
Tisch mit Resopalplatte, die hölzernen Stühle, manche mit spinnendünnen Metallbeinen, abgeschabte, aus den Kellern der Justiz hergeschaffte, vor Jahrzehnten abgeschriebene Exemplare, und dort hinter der rückwärtigen Tür war sicher immer noch das Badezimmer, das niemals benutzt wurde. Nur den Türdrücker hatten sie abmontiert, stattdessen eine Nuss angebracht, sodass unbefugtes Baden nun ebenso ausgeschlossen war wie der Eintritt in die Anstalt nur nach Gesichtskontrolle.
Schlüter ließ seine Tasche auf einen der Stühle gleiten, trat zu den milchgläsernen Fenstern und öffnete einen Flügel. Der Blick ging auf den Innenhof des Gefängnisses, den eine hohe Mauer umgab, die mit Glasscherben und Stacheldraht bewehrt war. Orientalische Musik und türkische Rufe schallten herüber.
Auf dem Flur krachte die Eisentür. Schlüter drehte sich um. Ein untersetzter Mann mit schwarzen Haaren und einem Gesicht wie nasse Brikettasche betrat den Raum. Seine linke Gesichtshälfte war blaugrün, das Auge hing schief.
»Herr Cengi, Schlüter mein Name«, ging Schlüter auf ihn zu.
Ein Händedruck, der keiner war. Der Mann hatte eine lasche, feuchte Hand. Im Knast waren alle Hände lasch und feucht.
Ein dunkler Blick aus braunen Augen suchte Schlüters Gesicht ab, ob sich eine Spur von Vertrauen und Aufrichtigkeit darin fände. Dann nickte Cengi vorsichtig.
»Ihr Onkel …«, begann Schlüter hilflos. »Es tut mir leid.«
Cengi klappte die Arme auseinander und stieß einen langen zittrigen Seufzer aus.
»Setzen wir uns«, bat Schlüter wie ein Hausherr. »Ihr Onkel hat mir den Auftrag erteilt. Ich soll Sie verteidigen, sagte er. Und für Sie ein Asylverfahren betreiben, wenn es ginge. Und dann hat er mir Ihre Vollmacht besorgt. Ich habe mich mit ihm noch einmal getroffen, er hat mir einiges von seinem Leben erzählt – und dann …« Er hatte schon zu viel geredet. Das tat er immer hier in der Haftanstalt, wenn er auf die hoffnungslosen Gestalten traf. Die alte Gewohnheit stellte sich sofort wieder ein.
»Ja«, sagte Cengi. Er hatte die Unterarme auf den Tisch gelegt wie Schlüter; die Symmetrie der Körpersprache beim Gespräch. Schlüter spürte, dass die Tischplatte unter seinen Armen vibrierte.
Über den Gefängnishof gellte eine Stimme und Cengi wandte den Kopf zum Fenster. »Es hat keinen Sinn«, sagte er leise. »Es ist …«, er verstummte, schluckte trocken und schüttelte heftig den Kopf.
»Das können wir doch noch gar nicht wissen«, versuchte sich Schlüter in professionellem Optimismus. »Ich habe die Ermittlungsakte noch nicht eingesehen, ich weiß nicht, welche Beweise gegen Sie vorliegen. Ihr Onkel hat mir gesagt, dass Sie das nicht absichtlich getan haben, Sie haben mit dem Mann auf dem Gerüst gekämpft und es hat sich eine Gerüststange gelöst, der Mann vom Arbeitsamt hat den Halt verloren und ist hinabgestürzt. Das ist doch kein Mord! Noch nicht einmal ein Totschlag! Das ist, das ist … das dürfte noch nicht mal fahrlässige Körperverletzung sein, meines Erachtens, das ist …«
Cengi schüttelte wieder den gesenkten Kopf. Schlüter verfluchte sein Juristendeutsch und den Zweifel, der sich hinterrücks in seine Worte eingeschlichen hatte: meines Erachtens, das dürfte – konnte man sich nicht klar und eindeutig ausdrücken?
»Das alles ist egal«, flüsterte Cengi. Er war totenbleich unter seiner braunen Haut und seine trockenen Lippen zitterten, während er sprach. Der Tisch vibrierte stärker, Schlüter warf einen verstohlenen Blick unter den Tisch, nein, Cengi wackelte nicht mit den Beinen, er übertrug das Zittern seines Leibes mit den Unterarmen auf die Tischplatte, der ganze Mann stand unter Starkstrom. Heyder Cengi hob einen Arm und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn, sein Atem ging stoßweise, und unter seinen Wangen mahlten die Muskeln.
»Aber nein, Herr Cengi«, beeilte sich Schlüter zu sagen, »bevor ich nicht …«
»Sie behaupten, ich habe Onkel Veli umgebracht!!«, brach es aus Cengi heraus, es hielt ihn nicht länger auf dem Stuhl, dessen metallene Beine kreischend über den Boden fuhren. »Sie sagen, ich habe ihn ermordet, ich, ich, ausgerechnet ich!!«
»Wie das?«, fragte Schlüter blöd, während ihm einfiel, dass die Staatsanwältin von der ›zweiten Akte‹ gesprochen hatte. Die zweite Akte: Das waren nicht zwei Bände ein und desselben Ermittlungsverfahrens, sondern zwei Ermittlungsverfahren!
Cengi nestelte ein zerknittertes weinrotes Papier aus
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