Paragraf 301
wird es nicht lange dauern. Und den Clever werden wir auch wieder los.«
Im Schutze der Dunkelheit verließ Schlüter mit Zekiye Kaya das Büro und schlich, den Umweg über die Kehdinger Straße nehmend, vom anderen Ende des Gerbergangs her nach Hause. So mieden sie die Fußgängerzone und den Sivas-Grill.
Christa zerschmolz augenblicklich, als sie die zarte Frau, die ihre bunt schillernde Handtasche mit weißen Knöcheln an sich gepresst hielt, in Schlüters Schatten unter der Tür stehen sah.
»Bitte entschuldigen Sie«, flüsterte Zekiye schüchtern. »Ich danke Ihnen so sehr …«
»Aber nicht doch«, lächelte Christa und nahm die junge Frau in den Arm. »Kommen Sie. Hier sind Sie erst mal sicher. Wir haben doch Platz!«
Zekiye Kaya brach in Erleichterungstränen aus und dann fing sie an zu jammern, dass ihr Vater nicht wüsste, wo sie wäre, und ihre Mutter würde sich noch viel mehr Sorgen machen, sie würden natürlich nach ihr suchen und zur Polizei gehen, spätestens übermorgen, um sie als vermisst zu melden, und dann würde auch die Polizei nach ihr suchen; und ihre Arbeitsstelle – sie würde bestimmt eine Kündigung bekommen, wenn sie unentschuldigt fortbleiben würde, ihr Chef verstünde da nicht viel Spaß …
»Das regeln wir morgen«, unterbrach Schlüter. Morgen werde er vertraulich mit ihrem Chef sprechen und Staschinsky von der Polizei in Bremervörde anrufen, der eine sinnlose Fahndung zu verhindern wüsste. In Hemmstedt kannte Schlüter keinen Polizisten, zu dem er so viel Vertrauen hatte. Er hatte das erste Mal bei der Strafsache von Borstel mit Staschinsky zu tun gehabt, der Polizist galt bei seinen Kollegen als widerborstig und unbequem, weil er nicht den Bullen spielte.
Eine Stunde später begann der Kriegsrat, zu viert, in der noch kahlen Küche der Bücherwohnung, die mit den hinterlassenen Einbauten des Vorgängers ausgestattet war, an einem nüchternen Esstisch, im Reich des Truchsesses und Mundschenks Paul Clever, der zunächst das Abendbrot serviert hatte, eine Tomatenquiche und zum Nachtisch Birnen-Avocado-Carpaccio mit Honig und Walnüssen, und nun reichte er Käse, dazu Wein für die Schlüters und Tee für die Flüchtlinge, denn Wein ist nichts für Alkoholiker und Muslime. Obwohl, wie Schlüter inzwischen wusste, der Koran da sehr widersprüchlich war, denn nichts im Leben ist wirklich klar geregelt, schon gar nicht die Ge- und Verbote in den heiligen Büchern, auch wenn ständig das Gegenteil behauptet wurde: Und so er, der Koran, von einem anderen als Allah wäre, wahrlich sie fänden in ihm viele Widersprüche.
Was war zu tun?
Schlüter beschloss, Zekiye Kaya einzuweihen. Die Heimlichtuerei gegenüber Veli Adaman und Heyder Cengi, denen er von dem Mandat Gül nichts verraten hatte, weil er der Schweigepflicht unterlag, hatte ihm ein Großproblem eingebrockt.
Er erzählte von seinem Besuch bei Cengi, berichtete von der mündlichen Verhandlung in Celle, davon, dass Gül sich nicht an die Namen seines Arbeitgebers und seiner Entlastungszeugen erinnert hatte und seine Auslieferung an die Türkei letztlich nur deshalb zurückgewiesen worden war, weil das türkische Strafverfahren allem Anschein nach unfair und politisch motiviert war.
Wenn der Verdacht gegen Gül den Tatsachen entsprechen sollte, erklärte Schlüter, und Gül außerdem Adaman bei der zufälligen Begegnung vor dem Sivas-Grill wiedererkannt habe, bedeutete dies, dass Gül ein Motiv hatte, Adaman zu töten. Denn Adaman hätte Güls Flüchtlingsstatus in Deutschland zerstören können mit der sicheren Folge, dass Gül in die Türkei ausgeliefert und dort in Haft genommen worden wäre. Ein Menschenleben gegen zwanzig Jahre Haft, das konnte man nachvollziehen.
Zekiye Kaya hatte schweigend zugehört, Erstaunen, schließlich Abscheu im Gesicht.
»Können Sie eventuell sagen, wo Ihr Cousin am Abend des 3. Februar – das war ein Freitag übrigens – gewesen ist?«, fragte Schlüter.
»Emin ist nicht mein Cousin«, antwortete sie kühl. »Er ist nur der Sohn der Schwester der Ehefrau des Bruders meines Vaters.«
»Moment«, warf Christa ein. »Von Ihrem Onkel väterlicherseits, das heißt von Ihrer angeheirateten Tante – ein Neffe?«
Zekiye Kaya nickte. »Streng genommen bin ich mit ihm nicht verwandt. Jedenfalls in Deutschland nicht.«
Clever wedelte verlegen grinsend mit seinen langen Fingern und schenkte Tee nach. Er konnte nicht folgen, denn komplizierte Verwandtschaftsverhältnisse waren ihm
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