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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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Türkei wegen Fahnenflucht gesucht wird. Er hat Zeugen benannt, die das bestätigen können. Und wenn ihr diese Zeugen findet und mit ihnen sprecht …?«
    »Meinen Pass habe ich dabei«, sagte Zekiye Kaya und stellte sich neben Christa.
    Schlüter war der Einzige, der noch saß. Er sah sich um. Er überlegte, ob er seine Feigheit hinter angeblicher Vernunft versteckte und ob der Beruf seine Moral verdorben hatte. Dann packte er sein Weinglas, schob seinen Stuhl zurück und richtete sich auf.
    »Ach du Scheiße«, sagte er.
    Und damit war die Sache besiegelt.

Teil 3
Reise in den Krieg

 
    Sie nennen uns Ergebende,
Wir haben nur einen Feind: den Hass.
Wir hassen niemanden,
Alle sehen wir als Gleiche und in Einheit.

    Yunus Emre (1241–1321),
türkisch-alevitischer Dichter

34.
    In geschlossener Gesellschaft konnte man sich in Pläne und Taten hineindenken und -reden, aus denen man nicht mehr herauskam, ohne sie umzusetzen und zu tun. Drei Tage später fuhren sie durch das karge Ostanatolien: Schlüter als Anwalt und Fahrer, Clever als Fährtenleser, mit wissendem Gesichtsausdruck, offenbar in seinem Element, er sog die fremde Luft durch geblähte Nasenflügel ein, die Karte auf den Knien, Sitz und Lehne seiner langen Beine wegen weit zurückgestellt, und Zekiye Kaya als Dolmetscherin hinter Schlüter auf dem Rücksitz, schweigsam, neben sich das getürmte Gepäck, eingehüllt in ihren langen Mantel.
    Mächtige Berge beherrschten das baumlose Land, wie böse Riesen in langen grauen Mänteln, nur manchmal in den Tälern, auf lehmocker Feldern, verstreute blatt- und blütenlose Bäume, nackt und schutzlos den Elementen preisgegeben, vielleicht Aprikosen, denn die getrockneten Früchte wurden an den Straßen verkauft, vielleicht aber auch Datteln; schneebedeckte Gipfel, verschneite Hochebenen, glitzernd wie arktische Seen im gleißenden Licht der Sonne, braune strauchlose Steppen, hin und wieder war im Dunst zwischen den faltigen Füßen ferner Felsen ein einsames Dorf auszumachen: ein Haufe grauer Häuser im Schnee, aus dem ein Minarett aufragte. Der Himmel hatte keine Wolken und bot keinen Schutz vor dem All. Dass es hier noch so kalt war, hatte Schlüter nicht geahnt.
    Die Straße: ein vierspuriges graues Band, meistens leer bis zum Horizont. Zweimal hatten sie militärische Kontrollposten passiert, an einer Brücke über das steinige Bett eines fast ausgetrockneten Flusses und auf einem schneebedeckten Pass; die Soldaten in ihren grünen Uniformen hatten sich in ihre Schilderhäuser am Straßenrand zurückgezogen und sie fuhren weiter.
    »Was soll das denn?«, hatte Schlüter gefragt.
    »Krieg«, hatte Clever geantwortet.
    »Hier?«
    »Ja, offensichtlich.«
    »Und woher wollen Sie das wissen? Vielleicht setzen die das Militär auch für Verkehrskontrollen ein?« Schließlich diskutierte man in Deutschland auch darüber, ob man die Bundeswehr im zivilen Bereich einsetzen wollte. Vielleicht waren die in der Türkei schon weiter?
    »Wenn man im Knast war, weiß man vieles, was andere nicht wissen.«
    Damit war die Diskussion beendet.
    Vom Flughafen Malatya waren sie mit dem Taxi in die Stadt gelangt und hatten dort einen Leihwagen genommen, einen kleinen Fiat, der hoffentlich durchhalten würde. Den Motor konnte man nicht hören, denn der grobe Asphalt dröhnte im Fahrgestell. Die Nacht hatten sie in Darende verbracht. Das Hotel Tiryandafil, ein sechsstöckiger Klotz und ziemlich neu, lag an einer vierspurigen Straße, die den Ort in zwei Teile zerschnitt, und während Schlüter aus dem schlecht schließenden Plastikfenster seines Hotelzimmers auf den Berg gegenüber blickte, wartete er, dass seine Seele nachreisen würde, mit der er heute Morgen, halb in der Nacht, noch in Hemmstedt erwacht war.
    Alles war unwirklich.
    An der Rezeption verlangte man den Namen von Vater und Mutter, der umständlich in ein Formular einzutragen war. Sein Vater sei lange tot, ließ Schlüter durch seine Dolmetscherin vorbringen, und seine Mutter über achtzig Jahre alt, was die beiden für eine Rolle spielten? Egal, um eingelassen zu werden, musste er ihre Namen auf ein Blatt Papier schreiben, in Druckbuchstaben, damit sie ins Gästeformular transkribiert werden konnten. Und die Berufe waren anzugeben: Rechtsanwalt. Auszubildende. Clever gab sich als Koch aus, was einigermaßen stimmte, und entschied sich für einen seiner sieben Väter. Ein livrierter Page trug das Gepäck zum Fahrstuhl, Zekiye flüsterte Schlüter das Wort Trinkgeld

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