Paragraf 301
nicht geläufig. Er hatte es in seinem Leben nur mit seiner Mutter, sechs Halbgeschwistern und sieben Vätern zu tun gehabt, von denen er nicht wusste, welcher seiner war. Wenn einer von ihnen gekommen war, um seine Mutter zu vögeln, hatten sie ihn stets vor die Tür gesetzt. Seitdem kämpfte er täglich für ein bisschen Würde.
»Und«, setzte Schlüter nach. »Können Sie sich an den Tag erinnern?«
Zekiye Kaya schüttelte den Kopf. »Das ist jetzt wie lange her? Über sechs Wochen? Emin wohnt ja nicht bei uns. Er wohnt im Ostpreußenviertel. Aber er war oft da, besonders am Wochenende, und – ja – besonders an den Freitagabenden. Er ist immer mit meinem Vater in die Moschee gegangen am Freitag, zum Abendgebet waren sie oft zusammen weg. Aber genau an dem Tag?« Sie legte die Hände in den Schoß und sah nach oben in die Ecke der Küchendecke, wo noch die Spinnweben des Vormieters hingen. Schließlich schüttelte sie den Kopf.
»Wäre auch Zufall«, sagte Schlüter. »Ich weiß auch nicht mehr, was ich am 3. Februar gemacht habe.«
»Doch«, entgegnete Christa mit zartem Augenaufschlag. »Am 3. Februar hat doch Markus Geburtstag und …«
Sie waren abends im Bosporus gewesen und hatten Haslama gegessen, gekochtes Lammfleisch, und Cihan hatte sich zwischendurch, wenn er Zeit hatte, zu ihnen gesetzt und Tee mit ihnen getrunken. Und anschließend waren sie nach Hause gegangen und hatten eine Flasche Rotwein aufgezogen und auf Markus’ Geburtstag angestoßen, und danach hatten sie sich geliebt, im Schattenreich des Schlafzimmers, Christa hatte ihm ihre Dreikinderbrüste zur Liebkosung hingegeben, mit ihrem vertrauten Duft, eine träge Hand in seinem grau gewordenen Haarkranz, und das war vielleicht die Zeit gewesen, als Adamans Mörder im Dunkel der Nacht um das Haus im Moor geschlichen war, nicht auszudenken …
»An einem Freitag war er nicht da, das weiß ich noch«, beendete Zekiye Kaya Schlüters Gedankenglück. »Das fällt mir jetzt ein. Mein Vater hatte sich daran gewöhnt, freitags mit Emin in die Bahnhofstraße in die Moschee zu gehen. Und an einem Freitag war Emin nicht da. Und mein Vater wusste nicht, warum. Er fragte noch meine Mutter. Aber sie wusste es auch nicht. Er wartete. Und er ärgerte sich.«
Sie schloss die Augen, legte den Kopf in die Hände und überlegte. Die anderen wagten kaum zu atmen.
»An dem Tag war ich müde«, murmelte Zekiye Kaya in ihre Hände. »Sehr müde. Anstrengende Arbeit. Ich hatte mich gefreut, dass Emin nicht gekommen war, so musste ich nicht mit ihm reden und konnte früh zu Bett. Ich war den ganzen Tag herumgelaufen. Wegen der Gäste. Eine Tagung.« Sie atmete in ihre Hände.
Endlich nahm sie die Hände vom Gesicht und blickte auf. »Industrie- und Handelskammertag. Den haben wir ausgerichtet. Im Kultureum. «
Clever klatschte sich auf die Schenkel.
»Man muss nur in der Zeitung nachsehen«, fügte Zekiye hinzu.
Aber sie hatten keine Zeitung und schon wieder fragte sich Schlüter, ob es zeitgemäß war, keine zu haben. Christa stand auf und erklärte, sie werde ihre Kollegin Piegelsberger-Klawitter anrufen, mit der sie in einem Damenkreis einmal im Monat Bridge spielte, ihre einzige Konzession an das mondäne Leben und einer der wenigen Außenkontakte, die sie pflegten.
Nach wenigen Minuten kehrte sie zurück, drei gespannte Augenpaare auf sich gerichtet. »Prost«, sagte sie und hob das Glas. »Bingo.« Sie funkelte mit den Augen.
Paul Clever lachte begeistert und schlug seine langen Hände zusammen, Zekiye Kaya wusste nicht, ob sie sich freuen sollte oder nicht, und Christa zündete sich aufgeräumt eine Filterlose an. Abends war sie Raucherin. Aber was sollten sie mit der Erkenntnis anfangen, dass Emin Gül am Abend des 3. Februar 1995 nicht, wie sonst üblich, seine Braut und künftigen Schwiegereltern besucht hatte? Ein Alibi konnte er trotzdem haben. Andererseits war der Verdacht gegen ihn noch stärker geworden.
Schlüter zog den Bierdeckel aus seiner Jacketttasche und studierte ihn zum hundertsten Mal. »Da ist noch ein offener Punkt«, überlegte er laut. »Adaman wollte mir von einem Buch erzählen, das er tags zuvor geholt hatte, und im gleichen Atemzug hat er den Namen Rothenfels …«
»Was für ’n Buch?«, fragte Clever dazwischen.
»Keine Ahnung. Buch und Rothenfels, mehr weiß ich nicht.«
»Aber ich hab ’ne Ahnung!«, rief Clever und erhob sich, und während er die Weingläser und Teebecher nachfüllte, erzählte er von der
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