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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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Schultern. »Ich kann nicht zurück«, flüsterte sie mit endgültiger Traurigkeit.
    »Ach du Scheiße«, wiederholte Schlüter. Über den Völkermordstein hinweg, der zwischen ihnen lag, fing er vom Frauenhaus an, aber es kam ihm wie ein Ablenkungsmanöver vor, und richtig, kaum hatte er das Wort ausgesprochen, da schüttelte Zekiye Kaya heftig den Kopf und unterbrach Schlüter: Dort könne sie unter keinen Umständen hin, das habe sie sich schon überlegt, das Frauenhaus liege mitten in der Stadt, an der Kreuzung, wo es über den Hafen zum Ostpreußenviertel abgehe, »da, wo die ganzen Ausländer wohnen«, das kenne doch jeder, das Haus stehe geradezu auf dem Präsentierteller, da sei sie wie im Gefängnis, dort auch, nur nicht so sicher, denn ihr Vater und ihr Bruder und Emin Gül und alle würden ihr auflauern, vor der Tür oder in einiger Entfernung hinter der nächsten Straßenecke, das hätten andere auch gemacht, da könne keine türkische Frau hin, die türkischen Männer hätten nämlich keine Angst vor irgendwelchen gerichtlichen Anordnungen, die würden sich ihre Frauen trotzdem zurückholen und durchsetzen, was sie wollten, die würden warten, bis die Frau irgendwann doch mal aus dem Hause müsste, und dann würden sie … Und dann …?

    »Ach du Scheiße«, sagte Schlüter zum dritten Mal und dachte daran, dass er es noch nicht mal geschafft hatte, Erna Rathjens vor ihrem Sohn zu schützen. Aller einstweiligen Verfügungen zum Trotz hatte der seine Mutter doch aus dem Haus geworfen, an den Füßen über den Tritt geschleift. Man musste nicht Türke sein, um deutsche Gerichtsurteile zu missachten, das konnten die Eingeborenen auch sehr gut erledigen. Jede entschlossene Faust war der Justiz überlegen, das wusste jeder Familienrechtsanwalt.
    »Sie müssen mir helfen«, flehte Zekiye mit dünner Stimme.

    Schlüter nickte schweigend. Seit er Veli Adaman kennengelernt hatte, dessen Vermächtnis in Gestalt des Steines und seiner fürchterlichen Geschichte vor ihm auf dem Schreibtisch lag, verlor er die Kontrolle über die engen Grenzen seines Lebens. Er konnte Privatleben und Beruf nicht mehr abgrenzen und, was schlimmer war, er fragte sich, warum und seit wann es eine Grenze geben musste.
    »Sie sind der Einzige, der mir eingefallen ist, wo ich hingehen könnte«, fügte sie hinzu. »In meiner Berufsschulklasse sind auch ganz Nette, aber mit so was könnte ich denen nicht kommen …«
    Schlüter, der Helfer in der Not, der Retter, ein Ritter der Artusrunde, der allen Erniedrigten und Beleidigten beistand, besonders aber den ehrenwerten Jungfrauen. Wie konnte es sein, dass ausgerechnet diese Muslimin auf die Idee kam, ihn als letzte Rettung anzusehen? Diesen bleichen, ältli-chen, immer langweilig grau und korrekt gekleideten Anwalt mit dünnen Armen, Gleitsichtbrille, Halbglatze und Bauchansatz?

    »Zu Ihnen habe ich Vertrauen …«
    »Ach du Scheiße, ja«, erwiderte Schlüter, und als die Frau erschrocken zusammenzuckte, fragte er: »Hat Sie jemand hier reingehen sehen?«
    Sie schüttelte entschieden den Kopf und sah ihn aus wässrigen Augen hoffnungsvoll an.
    »Nach Sivas will er sie schicken, Ihr Vater?«, fragte Schlüter. »Wie ist das da eigentlich?«
    Er vergaß, die Alevitenhasserin zu fragen, ob sie Aleviten hassen würde.

33.
    Danach ging alles ziemlich schnell und noch am Abend wurden weitreichende Beschlüsse gefasst, deren Logik Schlüter schon zwei Tage später stark bezweifelte, aber da war es bereits zu spät. An manchen Tagen quollen die Ereignisse über wie Hirsebrei über den Schüsselrand.

    Zekiye Kaya wartete in der Teeküche, still bei einem Pfefferminztee, bis Schlüter mit den Mandanten des Nachmittags gesprochen und die notwendigste Arbeit des Tages erledigt hatte. Zwischendurch rief er Christa an und weihte sie in sein neues Problem ein: noch ein Gast für die Bücherwohnung.

    »Bist du ganz und gar verrückt geworden?« Sie flüsterte am Telefon, vermutlich, weil Clever sie schon wieder mit seiner elenden Fürsorglichkeit umstrich und sie nicht laut sprechen konnte. »Du kannst doch nicht die ganze Welt retten!«

    »Die ganze Welt nicht«, flüsterte Schlüter zurück. »Aber vielleicht einen Menschen.« Und wer einen am Leben erhält, soll sein, als hätte er die ganze Menschheit erhalten. So stand es im Koran, was sollte falsch sein an dem Spruch? In kurzen Worten erklärte er Christa das Hochzeitsproblem. »Weißt du, ich konnte nicht anders – dieser Stein – bestimmt

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