Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
Vom Netzwerk:
Schritttempo, bedrängt von vieltönigem Hupen, jeder mit seiner eigenen Melodie, Schlüter hatte Angst, die Leute zu überfahren, die gebeugt am Straßenrand standen, vor ihnen kreuz und quer über die Fahrbahn sprangen. Er parkte den Wagen zwischen zwei anderen, an einem hohen zerborstenen Kantstein. Sie stiegen aus, um sich zu orientieren. Die Fassaden waren voller greller Schilder, ein Knabe auf einem Fahrrad schoss an ihnen vorbei, im Slalom durchs Gewühl, er fuhr freihändig und balancierte ein riesiges silbernes Tablett mit einer Pyramide Brezeln auf dem Kopf und schrie immer wieder ein fremdes Wort.
    »Wir müssen den Inönü Bulvarı finden«, sagte Schlüter. Veli Adaman hatte ihm erzählt, dass diese Straße mitten im Zentrum der Stadt lag; dort sollte es einen Buchladen geben, in dem sie nach Osman Barut fragen konnten.
    »Kein Problem«, erklärte Clever und stiefelte los, die leicht abschüssige Straße hinunter, ohne sich umzusehen.
    Zögernd folgte Schlüter und vergewisserte sich, dass Zekiye mitkam. Sie hatte Angst im Gesicht, sah sich befremdet um, strich ihren kokonartigen grauen Mantel glatt und setzte sich endlich ebenfalls in Bewegung. Clever hatte schon dreißig Meter Vorsprung und wäre nicht seine lang aufragende, strichdünne Gestalt gewesen, die durch die Menge pflügte wie ein schmales Schar, seine ruhigen, doch raumgreifenden Schritte, die seine Bewegung unverwechselbar machten, so hätten sie ihn in dem Gewimmel auf dem Bürgersteig verloren. Er war ein Fremder und doch bewegte er sich wie auf heimatlichem Boden. Sie stiegen immer wieder vom hohen Kantstein hinunter und wieder herauf, um den Menschen auszuweichen; meist junge Leute, getrennt nach Geschlechtern gingen sie, zu zweit, in Gruppen, die Frauen mit und ohne Kopftuch, manche im schwarzen Tschador, der nur die Augen freiließ, denen man nicht ansah, ob sie jung oder alt waren, manche auch westlich gekleidet, mit offenen Haaren, in denen die Sonne leuchtete, die Männer schlenderten untergehakt nebeneinander, im Gespräch. In der Stadt war es überraschend warm und Schlüter brach der Schweiß aus.

    Clever war an eine T-Kreuzung gelangt und blieb stehen. Er wartete, bis die beiden anderen ihn eingeholt hatten.
    »Hier müsste es ungefähr sein«, behauptete er.
    Sie standen zu dritt und machten lange Hälse.
    »Sind Sie aus Deutschland?«, hörte Schlüter eine Stimme neben sich.
    Ein schwarz gekleideter Mann mit Mütze und grauem Schnurrbart, einen Kopf kleiner als er selbst und zwei Köpfe kleiner als Clever, lächelte ihn an.
    »Äh – ja, warum?«
    »Oh, ich habe Mannheim gearbeitet, dreißig Jahre, jetzt wieder hier, Rente.« Das Lächeln des Mannes verbreiterte sich. »Darf ich Sie zum Tee einladen?«
    Bevor Schlüter antworten konnte, drängte sich ein halbwüchsiger Bursche in die Gruppe, er schwenkte ein silbernes Henkeltablett, auf dem vier winzige Gläschen standen, deren gläserne Untertassen umgedreht obenauf lagen, darauf je zwei Stückchen Zucker.
    »Bitte«, sagte der Mann mit einer einladenden Handbewegung.

    Konnte der Mann zaubern? Der Bursche hatte eines der Teegläschen auf die Untertasse gestellt und reichte es Schlüter, dann machte der Junge sich daran, die anderen zu versorgen.
    »Wie gefällt Sie hier?«, fragte der Fremde.
    »Oh …«, machte Schlüter und begann ebenfalls zu lächeln.

    »Tolle Stadt«, sagte Clever begeistert. »Wirklich toll!«
    Der Türke nickte geschmeichelt und ertränkte seinen Zucker im Tee. Die drei Reisenden machten es ihm nach, und so standen sie in Sivas, der zweitkältesten Stadt der Türkei, mitten auf dem betonierten Bürgersteig einer hektischen Ampelkreuzung, rührten in den Tässchen und tranken Tee, in der überraschend warmen Sonne des späten Nachmittags, während die Autos vorbeibrausten und die vielen Fußgänger einen Bogen machten um die kleine Teeparty.
    »Deutschland sehr gut!«, sagte der Fremde. »Europa sehr gut! Kohl sehr schlecht. Er mag nicht Türkei. Was denken Sie?«

    »Kohl spinnt«, übernahm Clever die Konversation. »Die Politiker spinnen alle. Und lügen tun sie den ganzen Tag.«
    Der Fremde lachte, er hätte eine Banane quer essen können, und zeigte einen goldenen Zahn und schwarze Stümpfe. »Haha, richtig, richtig!« Als er ausgelacht hatte, fragte er: »Urlaub?«

    Schlüter und Clever nickten.
    »Warum nicht Antalya? Antalya so schön wie europäische Stadt, sehr viel schöner Stadt!«
    »Stimmt! Aber da waren wir schon«, log Clever.

Weitere Kostenlose Bücher