Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
Vom Netzwerk:
Gläsern. Zekiye Kaya erklärte, dass man immer etwas auf dem Teller zurücklassen müsse, ein Stück vom Tavuk Sis, vom Hühnerspieß, ein Viertel Tomate, ein Häufchen Reis, der nach Kardamom schmeckte und mit Rosinen gewürzt war und Pilaw hieß; nur arme Leute, in denen der Hunger bohrte, aßen alles auf.
    Nach der ersten Nacht, heute Morgen, waren vor dem Hotel viele Autos vorgefahren, aus jedem stiegen sieben oder acht festlich gekleidete Männer, Frauen und Kinder und aus einem blumengeschmückten Wagen eine weiße Frau mit brandrotem Brautschleier über dem Kopf. Sie wurde geführt wie eine Blinde, wie eine Kuh zum Schlachter, hinein zur Feier in das Hotel und das türkische Eheleben.
    Das aber war schon Vergangenheit, denn die Zeit schritt fort wie bisher, und jetzt, am Nachmittag, fuhren sie auf der Straße Nr. 850 nach Sivas, der zweitkältesten Stadt in diesem Land, das auch für Zekiye Kaya ein fremdes war. In Sivas, der Stadt ihres Vaters, war sie niemals gewesen, sie war in Deutschland geboren, auch wenn sie ein Kopftuch trug und Muslimin war. Nun fuhr sie freiwillig in die Heimat ihrer Ahnen. Schlüter hatte bei ihrem Arbeitgeber einen zehntägigen Urlaub erwirkt, danach würde man weitersehen.
    Clever holte eine Thermoskanne unter seinem Sitz hervor, schwenkte sie übermütig und erklärte, es sei Zeit für den Unterwegskaffee.
    »Wo kommt der denn her?«, fragte Schlüter erstaunt.
    »Tja?«, grinste Clever glücklich.
    »Haben Sie den etwa im Hotel gekocht?«
    »Wo sonst?«, bestätigte Clever stolz. »Man muss sich zu helfen wissen. Ich hasse es, Sachen gebracht zu kriegen.« Er erklärte die Funktionsweise seines Spirituskochers, den er Sturmküche nannte, auf den ließ er nichts kommen.
    Parkmöglichkeiten, gar Rastplätze, gab es nicht. Vor und hinter den Städten Halden von abgekipptem Abfall, hauptsächlich Baumaterial, Steine, Fliesenreste, so wie sie von der Ladefläche eines Lkw gerutscht waren, ausgedehnt je nach Größe der Stadt nur hundert Meter oder bis zum Horizont. Nach vielen Kilometern fanden sie endlich eine Stelle, wo sie die hohe Asphaltkante hinabrollen und im Geröll am Straßenrand halten konnten, neben sich einen Haufen aus Betonresten und Fliesenschutt. Sie stiegen aus, aber ein kalter Wind, der über die mongolischen Weiten pfiff, biss ihnen durch die Kleider. Nach ein paar steifen Schritten zogen sie sich wieder zurück und nahmen das Getränk im Wagen ein.
    Kein Land für Reisende.
    Tee wäre Schlüter lieber gewesen, aber der schmeckte bekanntlich nicht aus Thermoskannen, außerdem fehlte die Milch. Also trank er den Kaffee, er war schwarz und heiß und machte munter nach der langen Fahrt. Schlüter sehnte sich schon jetzt, am ersten Tag ihrer verrückten Reise, nach Christa und einer Tasse Tee und Zweisamkeit. Und nach einem seiner abseitigen Bücher.
    Clever trug ein offenes Hemd, er hatte sich ein blau gemustertes Taschentuch um seinen dünnen Hals geknotet, das seinen Adamsapfel verbarg. Er sah ein bisschen wie ein Pfadfinder aus. Jetzt entdeckte Schlüter auch den Kompass, der vor Clevers Hühnerbrust an einem roten Band baumelte. Ein Kompass! Übertrieb der Mann nicht etwas?
    »Brauchen wir den denn?«, fragte Schlüter. »Schließlich haben wir eine perfekte Straßenkarte dabei.« Er warf einen kurzen Blick nach hinten. »Und eine perfekte Dolmetscherin, die nach dem Weg fragen kann.«
    »Wer weiß, was wir alles erleben?«, orakelte Clever bedeutungsschwanger. »Sicher ist sicher. Auch wenn es am Tag die Sonne und nachts die Sterne gibt.«
    Als am späten Nachmittag neue Schutthalden in Sicht kamen, erklärte Clever: »Sivas. Wir sind da.«
    Fern in der Ebene stapelten sich Hochhäuser vor dem milchigen Horizont. Zekiye auf dem Rücksitz wurde lebendig.

    »Wohin fahren wir zuerst?«, fragte sie.
    »In die Stadtmitte«, bestimmte Clever.
    Eine Kreuzung mit Schildern. Geradeaus nach Tokat, rechts nach Erzincan, der kältesten Stadt der Türkei.
    »Fahren Sie rechts und dann da vorne, sehen Sie? Sehir merkezi «, erklärte Zekiye. »Stadtmitte.«
    Das erste türkische Wort, das ich lerne, dachte Schlüter. Und ich will hier was klären.
    Er bog nach rechts ab und dann wieder links.
    Es wurde langsam ernst.

35.
    Die Stadt brodelte, ja sie kochte, die Bürgersteige quollen über, die Menschen waren unterwegs auf den Straßen, in den Parks, überall.
    Sie fuhren hinein in das Chaos, bis zum gefühlten Zentrum, denn Hinweisschilder gab es nicht mehr, manchmal im

Weitere Kostenlose Bücher