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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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zu, er grub in seinem zerschlissenen Portemonnaie und konnte nur einen Zehnmarkschein finden, den er dem erstaunten Burschen in die Hand drückte.
    Der Berg drüben hatte eine geröllbedeckte Flanke und mächtige Falten in seinem fahlen Gewand, an seinem Fuß die grauen Häuser, dünne hölzerne Stelzen trugen Blechdächer mit offenen Giebeln, unter denen Wäsche   baumelte; dort wohnten wohl die armen Leute. Vor den Häusern ein ausgetrockneter Fluss, in dessen Ufergebüsch die Fetzen alter Plastiktüten flatterten wie tibetische Gebetsfahnen, herabgespült von irgendeiner Müllhalde, wenige kerzenförmige Bäume, dünn wie Bohnenstangen, deren Äste man bis hinauf in die kümmerlichen Wipfel amputiert hatte: Heizmaterial, Baumaterial. Aber weiter unten, in der Stadt, türmten sich Hochhäuser mit unzähligen liegenden Tonnen auf dem Dach, wie gestapelt, für das warme Wasser, wie Zekiye Kaya erklärt hatte.
    Schlüter hatte den Fernseher ausprobiert, es lief eine Direktübertragung aus Mekka, unter fischgrünem Licht flutete ein Männermeer in weißen Tüchern um den schwarzen Kubus der Kaaba wie träges Badewasser um den Abfluss, die monotone Stimme eines unsichtbaren Mannes rezitierte mit langen Pausen, arabisch wohl, vielleicht aus dem Koran. Schlüter hielt das grüne Büchlein in seiner Hand, konnte sich aber nicht entschließen, seine Studien fortzusetzen. Er konnte sich überhaupt schlecht konzentrieren, denn er war noch nie so weit von der Heimat fort gewesen und hatte Angst, sich zu verlieren. Er wusste fast nichts über das Land, in dem er sich befand. Seine Kenntnisse beschränkten sich auf die Berichte Veli Adamans, einige Urteile des Bundesverwaltungsgerichts in Asylsachen und die Jahrzehnte zurückliegende Lektüre der Abenteuerromane von Karl May. Aber Schlüter war nun tatsächlich hier, nicht nur in der Fantasie wie der Lügenbaron aus Radebeul, und er hatte noch nicht einmal den Schutzbrief des Pascha bei sich, der fremde Türen öffnen oder aus Gefahren befreien würde. Zwar hatte er vor der Abreise die Telefonnummer auf der Visitenkarte angewählt, die Bauer Heinsohn von seinem Besuch bei den Hamburger Aleviten mitgebracht hatte, aber Heinsohns Gesprächspartner, Herr Mehmet Yigzi, war wortkarg geblieben, vielleicht weil er schon mitbekommen hatte, dass Cengi Schlüter das Mandat entzogen hatte, wer weiß? Jedenfalls hatte Schlüter nichts erfahren, was die Reise hätte vorbereiten können.

    Schlüter blickte weit hinaus in den Abend und unversehens begann es in der Luft zu knistern, der auf- und abschwellende Schrei eines Mannes füllte die Atmosphäre, gutturale Silben drangen, nicht ganz synchron, aus unsichtbaren Lautsprechern ringsum: Das musste der Gebetsruf des Muezzin sein. Er rief von den Minaretten, als drückte man ihm die Kehle zu, und bevor ihm endgültig die Luft ausging, verstummte er ebenso abrupt, wie er begonnen hatte, wie mitten im Wort und Schlüter hörte nur noch das Rauschen des Stadtverkehrs zu sich empordringen. Und die arabisch rezitierende Stimme aus dem Fernseher hinter ihm.
    Die Kreuzung drüben beherrschte ein hektischer Verkehr, dem die Ampel nur eine Empfehlung zu sein schien, denn die Letzten fuhren noch bei Rot und die Ersten schon bei Rot. Für den Mann im schwarzen Jackett, der da seinen hölzernen Marktkarren mit mühlsteingroßen Rädern, beladen mit leeren Gemüsekisten, über die Straße zog, als sein eigener geduldiger Esel, war das ein gefährliches Spiel.
    Die Nacht war ein Übeltäter, sie warf dem Tag die Kapuze über und es war dunkel. Es gab keine Dämmerung. Schlüter schloss das Fenster. Auf dem Bett lag sein aufgeklappter Koffer. Wie war er so plötzlich hierhergekommen?
    Am Abend hatten sie ein erstes Essen in dem fremden Land eingenommen, im vollen Speisesaal des Hotels. Man liebte hier alles, was glänzte – die Fliesen glänzten, die steinernen Säulen glänzten –, und man liebte das Plüschige und Geraffte, rote, rosa und weiße Rüschen verzierten Tisch und Stühle, es gab verstaubte künstliche Blumen und gelbe Gardinen. Der Koch hinter dem Tresen garte die Spieße über glühenden Kohlen, er schoss wie ein Weberschiffchen hin und her, die Kellner bedienten im Galopp, schweißüberströmt rissen sie Schlüter Besteck und Teller fort, noch bevor er fertig gegessen hatte, kehrten mit einem Fläschchen zurück, bespritzten die Hände der Gäste mit einer wohlriechenden Essenz, kehrten nochmals zurück und servierten Tee in winzigen

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