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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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allem: besser Bezahltem – nach Köln beworben, denn Dieken war ein verschwenderischer Mann, wie jeder wusste.
    Neben den beiden sah Schlüter den ehemaligen Landrat Graf Giselbert von Brunkhorst-Rothenfels, einen Nachkommen der Raubritter, die dereinst im 13. Jahrhundert auf einem Bankett in Hemmstedt, zu dem der Erzbischof von Bremen geladen hatte, die freien Kehdinger Bauern betrunken machten, sie auf ein geheimes Kommando niederstachen, um sich ihrer Frauen und der riesigen Marschgüter nördlich von Großenborstel zu bemächtigen. Ihre Nachfahren, die Rothenfelser, waren hochnäsige Leute, denn die Arroganz, die ihnen der frühere Reichtum verliehen hatte, war ihnen zum Gen geworden. Aber mittlerweile mussten sie die Arbeiten, für die sie nicht geboren waren, aus Geldmangel selbst tun oder sie gar, wie man hörte, auf ungesetzliche Weise von ausländischen Wanderarbeitern tun lassen. Ihre Gutshäuser verfielen, manchmal konnten sie die maroden Reetdächer mit dem Geld einer Familienstiftung für verarmte Adlige retten. Dennoch: Die Rothenfelser pflegten nicht zu grüßen, sie warteten, bis man sie grüßte, um sich eventuell zu einem huldvollen Gegengruß herabzulassen. Also ging Schlüter grußlos vorbei; er war ein freier Mann und niemandem Rechenschaft schuldig.
    Ganz in der Ecke fanden sie Havelack, er stand für sich und starrte aus dem Fenster in den nächtlichen Stadtpark. Sie versuchten, ihn mit einem Glas Sekt aus seiner Einsamkeit zu lösen, aber Havelack blieb abwesend. Er wich aus, als Schlüter eine Verabredung vorschlug. So hatten sie ihn wieder verloren.
    Der Trott der Jahre. Das Leben war müde und sterbenslangweilig wie der Nachsommer von Stifter und so unbegreiflich wie die Bücher von Handke. Man lebte von einem Tag zum andern, man tat, was einem auferlegt war zu tun, Wochen, Monate vergingen unbemerkt, der Sommer war davongeschlichen, der Herbst durchgehuscht, nun lag schon Frost in der dunklen Luft, bald war wieder ein Jahr futsch, abends zu Hause las man sich durch Berge von Büchern, für die sich außer einem selbst niemand interessierte, über die man außer mit seiner Frau mit niemandem reden konnte. Um einen alten Freund aber kümmerte man sich nicht und selbst wurde man immer einsamer. Routine. Pflicht. Geld verdienen. Büro. Die feuchten Hände der Mandanten. Die elenden Streitereien, derer er sich anzunehmen hatte. Die Beschimpfungen, die er sich anhörte. Jeden Tag das Gleiche. Als sei man auf ein Gleis gesetzt und hätte von hinten einen Tritt bekommen und rollte nun langsam fort und fort und fort …
    Der Mensch geht nicht zum Nordpol, er geht ins Büro, isst Suppe und sammelt Rabattmarken.
    Ich bin völlig vereinsamt, dachte Schlüter. Sogar zu den eigenen Kindern hatte er wenig Kontakt. Er hasste das Telefon, und wenn sie anriefen, sprachen sie immer mit Christa, die er hinterher befragte, ohne sich wirklich dafür zu interessieren. Er nahm sich sein Buch und eine neue Tasse Tee, las und verschwand in Fantasiewelten.
    Markus hatte sich als Tischler in Oldenburg selbstständig gemacht, mit einem Kumpel, den er in der Lehre kennengelernt hatte, Mareike war Lehrerin geworden, wie ihre Mutter, und hatte eine Stelle in einer Grundschule in der Nähe von Göttingen bekommen, wo sie studiert hatte, und Mara hatte nach ihrem Soziologiestudium gemeinsam mit einer Kommilitonin ein Café im sonnigen München aufgemacht. Junge Leute, die voller Optimismus und Energie aufbrachen in eine neue Zeit. Fröhliche Vögel, die sie in ihrem Nest gefüttert hatten, schon während des Studiums und später in Husum, wo Schlüter die ersten Berufsjahre verbracht hatte, schließlich in Hollenfleth in dem Bauernhaus, das sie dann verkauft hatten, als die Kinder mit der Schule fertig waren. Längst waren sie fortgeflogen, hinaus ins fröhliche Leben, und er und Christa hatten sich hier in der Altstadt von Hemmstedt zwischen ihren Büchern verkrochen.
    Sollte das alles gewesen sein? Sollte er sich auch den Rest seines Lebens mit Streit vergällen, mit Ehescheidungen, Verkehrsunfällen und fristlosen Kündigungen, jeden Tag Hassbriefe lesen und Hassbriefe schreiben und abends mit trockenen Fingern in dürren Büchern blättern?
    Es musste sich etwas ändern. Man musste wieder lernen, die Haupt- und Nebensachen zu unterscheiden. Man musste wieder etwas fühlen können, etwas Richtiges tun, es musste sich alles ändern … Gleich würde er Christa sagen, dass sie unbedingt einmal …
    Als Schlüter wieder

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