Paragraf 301
in der Fußgängerzone angekommen war, nur noch wenige Schritte vom Gerbergang entfernt, trat ihm ein Mann in den Weg.
»Entschuldigen Sie – Sie sind doch Rechtsanwalt?«, fragte er.
Der Mann hatte ein dunkles rundes Gesicht, einen dunklen Akzent. Kurze schwarze Haare, einen pechschwarzen Schnurrbart dick wie ein Besen, und bläulich schimmernde Stoppeln an den Backen. Ein Türke?
Schlüter nickte. »Schlüter mein Name. Warum?«
»Darf ich Sie zu einem Tee einladen? Ich habe eine Frage.«
Schlüter nickte noch einmal.
Der Fremde dirigierte ihn in den Döner-Imbiss, vor dem sie standen, seit gut einem Jahr gab es den Sivas-Grill. Der Mann lotste Schlüter zu einem der drei weißen Plastiktische, blieb selbst aber stehen und sprach in fremder Sprache zu dem Burschen in T-Shirt und roter Schürze, der hinter dem Tresen vor der Hitze zweier sich drehender Spieße arbeitete.
Schlüter wartete.
»Ich habe Sie schon öfter gesehen, wenn Sie mit Ihrem schwarzen Mantel über dem Arm hier vorbeigegangen sind«, erklärte der Mann, während Schlüter sich willig setzte. »Den ziehen Sie doch im Gerichtssaal an, oder?«
Schlüter nickte ein drittes Mal. Der Mann sprach recht ordentliches Deutsch.
»Wir brauchen einen guten Anwalt. Asylsache. Verstehen Sie? Aufenthalt. Auslieferung. Mein Neffe …«
Der Mann unterbrach sich und rief erneut dem Burschen hinter dem Tresen etwas in der fremden Sprache zu, um dann mit den Worten »Augenblick bitte« durch eine schmale weiße Tür zu schlüpfen, auf der Privat stand. Fort war er.
Drei junge Männer standen jetzt am Tresen; sie hatten kleine, alte Gesichter mit Pickeln und sprachen Russisch miteinander; vermutlich gehörten sie zu denen, die neuerdings die Terminsrolle des Strafrichters füllten. Sie bestellten einen Jumbodöner, einen Döner mit Kalbsfleisch und einen mit Hühnerfleisch. Ihre Frage nach Bier wurde abschlägig beschieden; Alkohol gab es in diesem Laden nicht. Aus dem Kassettendeck schallte türkische Musik: Trommeln, dramatische Geigenstöße, schrilles Getröte und ein Gesang, der leierte wie von einem defekten Plattenspieler.
»Mit alles?«, fragte die Bedienung.
Die drei Russen senkten düster ihre kurz geschorenen Köpfe, als bestätigten sie Todesurteile. Es waren nur noch wenige Leute draußen unterwegs und der Imbiss war der einzige Laden in der Fußgängerzone, der noch geöffnet hatte.
Nun betraten zwei junge dunkelhäutige Männer das Lokal; sie unterhielten sich in einer Sprache mit vielen kehligen Lauten, es musste Arabisch sein. Einer hatte einen millimeterschmalen Bartstreifen an den Backen, wie einen Halbmond. Vermutlich Leute aus dem Ostpreußenviertel, einem Stadtteil mit heruntergekommenen Wohnblöcken, in dem man in hundertsiebzig Sprachen die Worte Haschisch und Heroin verstand.
Mit meinem Björnsson bin ich total aus der Zeit, dachte Schlüter, ich müsste ganz andere Sachen lesen oder vielleicht sollte ich gar nichts mehr lesen, ich sollte auch nicht Norwegisch lernen, sondern eine Weltsprache: Arabisch, Russisch, Chinesisch. Er stellte fest, dass er schön in der Ecke saß; man konnte ihn von draußen nicht sehen. Schlüter kam oft erst später nach Hause, Christa würde ihn noch nicht vermissen. Außer diesem Türken und dem Burschen hinter dem Tresen wusste niemand, wo er war. Etwas sehr Seltenes in Schlüters verplantem Leben.
Die drei Russen hatten ihre Döner bekommen und bezahlt und verließen den Imbiss. Die beiden Araber hatten nur ein Getränk gekauft und waren verschwunden. Schlüter überlegte, was genau der Mann von ihm wollte. Auslieferung, hatte er gesagt, und Schlüter fiel der große Bericht im Hemmstedter Tageblatt ein, den Angela, seine Sekretärin seit langen Jahren, ihm gezeigt hatte. Ein Schwarzarbeiter, vermutlich ein Türke ohne Aufenthaltsrecht, hatte einen Kontrolleur vom Arbeitsamt vom Gerüst gestoßen. Der Mann war auf einen Betonmischer geprallt und hatte sich das Genick gebrochen. Der Täter war über einen Stacheldrahtzaun geflüchtet, an dem man sein Blut gefunden hatte. Solche lokalen Neuigkeiten erfuhr Schlüter von seiner Angestellten, denn er selbst hatte das Hemmstedter Tageblatt abbestellt, nachdem er herausgefunden hatte, dass er die Berichte von den Schützenfesten im Sommer und den Laientheateraufführungen im Winter für die Orientierung im Alltag ebenso wenig brauchte wie einen Fernseher. Den Arbeitgeber des Türken hatte man ermittelt, wie es hieß. Ob der Dönermann damit etwas zu
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