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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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Brüder gewesen waren. Adaman hatte sich um Cengi gekümmert, seit die Familie ihn aus der türkischen Haft freigekauft hatte und er nach Deutschland geflüchtet war.
    »Ich habe den Dede gefragt«, antwortete Adaman, während er ein paar kleine Holzscheite nachlegte und sich danach über dem heißen Ofen, über dem ihre nassen Arbeitssachen hingen, die Hände rieb. »Er sagt, du hast Schuld auf dich geladen, bist aber nicht böse.« Seine Stimme war heiser geworden, seit er vor einem Jahr aus der Türkei zurückgekehrt war, vielleicht vom Rauchen, denn seitdem rauchte er noch mehr, oder von dem, was er erlebt hatte.
    Cengi sog tief die Luft in seine Lungen und sagte: »Will er mich damit nur beruhigen?«
    »Nein.« Adaman kniete vor dem Herd, blies in die Glut und stand auf, als das Feuer zu knistern begann. »Unser Dede spricht immer die Wahrheit, obwohl er natürlich nicht unfehlbar ist. Aber meinst du, ich nehme die Gefahr auf mich und fahre nach Hamburg, nur um Beruhigungen zu hören? Ich habe ihm alles so erzählt, wie du es mir erzählt hast. Er sagt, du hast es nicht absichtlich getan.«
    »Nein.« Cengi wusste, wie gefährlich der Weg nach Hamburg war. Adaman war hingefahren, um mit ihrem religiösen Führer zu sprechen. Paul Clever hatte ihn chauffiert, der Mann ohne Bildung und Vorurteile, auf den sie sich verlassen konnten.
    »Aber du kannst nicht mehr zurückgehen«, warnte Adaman. »Nach Ruthensand, meine ich. Auch hier bei mir kannst du nur kurze Zeit bleiben. Du musst fort.«

    Adaman nahm zwei kleine Gläser und Untertassen mit vergoldetem Rand aus der Anrichte neben dem Herd, auf der in einem silbernen Rahmen das Bildnis des Hacı Bektas Veli stand, und stellte sie auf den Tisch, dicht nebeneinander. Die Gläser waren kleiner als die Blüte einer Tulpe und auch so geformt. Cengi beobachtete Xal Veli. Wie ruhig er war. Ruhe und Gelassenheit sprach aus seinen Bewegungen, seiner Haltung, sogar seinen rissigen Arbeitshänden. Er kochte Tee wie immer, wenn Cengi bei ihm und die Arbeit getan war. Die kleinen Zeremonien waren der Kitt im Alltag, der das bedrohte Leben zusammenhielt.
    Als Adaman aus der Anrichte den Zucker nehmen wollte, gewahrte er Werner Söhl draußen vor dem Fenster, er stand, in jeder seiner mit Leukoplast bandagierten Hände einen Eimer, wer weiß wie lange schon, und fixierte Adaman aus kalten Augen, während er die Eimer hochmütig an seinen Schenkeln pendeln ließ. Söhl verzog sein Gesicht nun zu einem schiefen Grinsen, zeigte seine schwarzen Zahnstümpfe. Adaman wartete, bis der Deutsche sich wieder in Bewegung setzte und seine knochige Gestalt gespensterhaft zwischen den Apfelbäumen verschwand.
    Sie hörten das dissonante Quieken der hungrigen Schweine, die Söhl in einem baufälligen Schuppen hielt. Er fütterte sie wie immer um diese Zeit des Tages; eigentlich zu spät, aber Werner Söhl richtete sich nicht nach den Zeiten, die für andere Bauern verbindlich waren. Er richtete sich nie nach dem, was andere taten, verachtete jeden Ratschlag und lebte in seiner eigenen Welt.
    Das Quieken steigerte sich, brach dann aber plötzlich ab und schlug in ein lautes Schmatzen um. Endlich, dachte Adaman. Er hatte bei Söhls Anblick eine Gänsehaut bekommen. Er konnte sich an ihn nicht gewöhnen, obwohl Söhl, der mit seinem gleichfalls unverheirateten Bruder Gustav und seiner alten Mutter die andere Hälfte des alten Hauses bewohnte, ihm seit über einem halben Jahr jeden Tag begegnete.
    »Er hält immer noch diese Schweine?«, fragte Cengi.
    Adaman nickte und sagte: »Der Stall ist viel zu klein. Besonders seit die Sau geferkelt hat.« Er setzte sich an den Küchentisch. »Er weiß nicht, dass du Heyder Cengi bist.«
    Cengi lachte trocken auf. Bei den Deutschen hieß er Murat, so stand es in seinem falschen Pass: Murat Açikgöz, geboren am 1. Januar 1974. Nach seinen echten Papieren war er zwar am gleichen Tag geboren, aber zwei Jahre später, nämlich am 1. Januar 1976. In Wahrheit aber hatte er seinen ersten Schrei irgendwann im Frühjahr des Jahres 1972 getan, Xal Veli behauptete am 23. März, und auch nicht in Sancak bei Bingöl, wie es in seinem falschen Pass stand, sondern in der Provinz Dersim, in einem kleinen Bergdorf, das Çakperi hieß, nicht weit von Pulur. Diese Namen waren verboten jetzt. Alles hatte neue Namen, sogar die Menschen. Niemand durfte die alten erwähnen in der Heimat. Tunceli musste die Provinz genannt werden, und Cengis Geburtsort hieß umständlich Gisney

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