Paragraf 301
tun hatte? Strafsachen bearbeitete Schlüter nicht mehr, seit er vor zehn Jahren das unfreiwillige Werkzeug eines Fehlurteils geworden war, das Richter Hohlmeier und seine Strafkammer gesprochen hatten.
Die Tür hinter Schlüters Rücken öffnete sich, der Mann, der ihn von der Straße geholt hatte, erschien wieder und setzte sich ihm gegenüber.
»Mein Name ist Kaya, Kemal Kaya«, stellte er sich endlich vor. Er hatte Hamsterbacken, melancholische braune Augen und einen würdigen Bauch.
Der Tresenbursche brachte zwei kleine tulpenförmige Gläser mit goldbrauner Flüssigkeit und stellte sie auf winzige Untertassen.
Schlüter hätte dem Mann spätestens jetzt erklären müssen, dass er keine Ausländersachen machte, weil er keine Ahnung von Asylsachen und Auslieferungsverfahren hatte, dass der Kollege Reimers, dessen Büro sich keine zweihundert Schritte entfernt befand, das viel besser konnte, weil er auf derartige Dinge spezialisiert war. So wie Schlüter es sonst immer tat. Aber er tat es nicht, sondern er nickte nur, zum vierten Mal, und wusste nicht, warum.
Der Türke nahm mit einer Zange drei Würfel Zucker aus einer Dose, die auf dem Tisch stand, ließ sie im Tee versinken und rührte um.
»Bitte«, sagte er und wies auf den Zucker.
»Ist das Tee?«, fragte Schlüter. Das etwa unterdrückte er.
»Ja.«
»Ich trinke Tee immer ohne Zucker.« Das und mit Milch unterdrückte er.
Schlüter hatte noch nie Tee aus so kleinen Gläsern getrunken. Dafür brach er auch nicht das Gespräch ab, bevor es richtig angefangen hatte, mit dem Hinweis, der Mann möge am nächsten Tag einen Termin mit Schlüters Sekretärin vereinbaren, wie sonst immer, wenn er seinen Kunden in der Stadt über den Weg lief und sein Privatleben verteidigte. Schlüter ließ alles so, wie es war. Es war zu spät umzukehren für einen grüblerischen Mann, der über fünfzig war, in seinem grauen Leben noch nichts erlebt und vielleicht vorgestern seinen besten Freund verloren hatte.
Er schlürfte einen winzigen Tropfen aus dem Glas. Der Tee verbrannte ihm die Lippen und war so bitter, dass er das Gesicht verzog.
»Bitte«, wiederholte Kaya lächelnd und schob die Zuckerdose um die Plastikblumen herum über den Tisch.
Schlüter nahm einen Würfel und nach kurzem Zögern warf er zwei weitere in das Glas und rührte um, während Kaya ihm gönnerhaft zusah.
»Es geht um meinen Neffen«, begann der Türke.
Auf die Wand hinter dem Tresen hatte man ein Bild gemalt. Der Bosporus. Blaues Meer, weiße Küste, Säulen, und die grüngoldenen Kuppeln der Moscheen und Paläste aus Tausendundeiner Nacht. Istanbul. Konstantinopel. Byzanz. Das Miklagard der Wikinger. Das goldene Horn. Seidenstraße, Samarkand, Alma-Ata, Ulan-Bator.
Sie waren allein, der Bursche hinter dem Tresen, der jetzt mit dem ausdruckslosen Blick des Jongleurs sein langes Dönermesser derwischartig an einem Spieß schärfte und blitzen ließ, Herr Kemal Kaya und Schlüter.
Schlüter setzte sein Teeglas ab und sagte: »Erzählen Sie.«
4.
Die Arbeit war getan. Heute hatten sie den ganzen Tag Apfelbäume geschnitten, tief im Hof und unter einem niedrigen nassen Himmel. Es war nichts Besonderes, wenn Veli Adaman einen Helfer mitbrachte zu Holthusens Hof. Draußen kroch die frühe Dämmerung aus den Gräben, schlich zwischen die Bäume des Apfelhofes und ließ das alte Haus in ihrem dunklen Schlund verschwinden.
Veli Adaman kochte Çay. Das Wasser simmerte auf der Küchenhexe. Adaman stand an der Anrichte, sehnig, weißhaarig, schnurrbärtig, groß, leicht gebeugt, und nahm aus einer Packung mit der Aufschrift Çaykur drei Mal ein kleines Häufchen grober schwarzer Teeblätter, gerade so viel, wie zwischen die ersten drei Finger passt, und rieb die Blätter bedächtig in ein kleines metallenes Kännchen. Dann ging er zur Spüle und tränkte sie mit kaltem Wasser aus dem Hahn, schwenkte das Kännchen und ließ das Wasser vorsichtig wieder auslaufen. Er wiederholte die Prozedur mit kochendem Wasser vom Herd. Endlich brühte er den Tee auf, füllte die große Kanne mit kochendem Wasser, stellte die kleine auf die Öffnung der großen und beide auf den Herd. Es summte beruhigend. Veli Adaman feierte die Zeremonie des Çay, als wäre nichts gewesen. Im Herd summten die guten Geister und verbreiteten ihre Wärme an diesem nassen Novembertag.
»Was soll ich jetzt machen, Xal Veli?«, fragte Cengi verzweifelt. Er nannte Adaman ›Xal‹, Onkel, weil Adamans Vater und Cengis Großvater
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