Paragraf 301
Seine Scheu hatte sich mit den Jahren verstärkt. Er war mutig hingegangen zum Kultureum, mit Christa im langen schwarzen Rock, schön wie immer, er selbst in unauffälliger grauer Bürokluft.
Mozart, Haydn und Vivaldi. Eine gehobene Veranstaltung für die obere Klasse, und alles, was Rang und Namen hatte, war in dem lichtfunkelnden Saal erschienen, stand in Grüppchen und unterhielt sich vertraulich. Richter Hohlmeier, genannt Vulgo, ehemals Vorsitzender der Großen Strafkammer, nunmehr der Zweiten Zivilkammer, Schlüters Intimfeind, war einer der Ersten, dem Schlüter zunicken musste. Einige Reihen vor ihnen nahm tatsächlich der perfekt frisierte Kollege Meier-Mertes Platz neben seiner dritten Frau, mit der er nun auch schon wieder zwei Kinder hatte, wie es hieß. Drei Plätze daneben erkannte Schlüter den Präsidenten an seinem feisten Nacken. Er war aus Eisleben zurück, wo er geholfen hatte, die Ostjustiz durcheinanderzubringen, die entspannte Zeit ohne ihn war viel zu schnell zu Ende gegangen. Der Präsident verschickte bereits erste Terminsladungen, natürlich war er auch in der Grabsteinsache zuständig. Und drüben im Gang unterhielten sich die stark geschminkte Familienrichterin mit dem Strafrichter Vollmann und dem Kollegen Reimers.
»Hast du was?«, hatte Christa leise gefragt und ihm ihre intime Hand auf den Schenkel gelegt, eine Geste, mit der sie ihn immer versöhnte.
»O Frau«, stöhnte Schlüter leise. »Zu viele Paragrafen hier.« Ihm ging es wie dem Sellerie, der mit sich selbst unverträglich ist und nicht neben seinesgleichen wachsen will. Man muss ihn für sich pflanzen, weit fort von den anderen.
»Ich weiß dein Opfer zu würdigen«, flüsterte Christa und lächelte ermunternd.
Während er jetzt auf dem knirschenden Fußweg am Burggraben ging, dachte Schlüter daran, wie er – schon mitten im zweiten Satz der Salzburger Symphonie – jenseits des Mittelganges seinen alten Freund Arthur Havelack entdeckt hatte, den Chef der psychiatrischen Abteilung im Hemmstedter Krankenhaus, der sich müde durch sein Silberhaar strich. Sein spitzer Ellbogen fuhr greisenhaft durch die Luft. Er war allein, denn seine Frau Meike war im Frühling gestorben, nach kurzer schwerer Krankheit hatte sie ihn verlassen. Sie hätte auf dem leeren Abonnementsplatz neben Havelack sitzen sollen und Schlüter verfluchte sich, dass er sich seit zwei Monaten nicht um seinen Freund gekümmert hatte. Früher hatten sie sich regelmäßig getroffen, zu viert, und manchmal auch nur die Männer zu zweit, um mithilfe einiger Flaschen guten Weines die Rätsel der Welt zu lösen. Und jetzt? Als würden sie auf zwei verschiedenen Planeten wohnen. Was taugte Freundschaft, wenn man einen einsamen Freund leiden ließ?, fragte sich Schlüter, während Mozarts Klavierakkorde unter den Händen des slowakischen Pianisten aufklangen. Wie konnte das sein? Noch dazu der einzige Freund, den er in den Jahren seines Berufes gewonnen hatte, während die andern von früher verloren waren. Damals, als Schlüter eine Diebin verteidigt hatte, eine Säuferin, und Havelack hatte das Gutachten zu ihrer Schuldfähigkeit erstellt, nach der Verhandlung tranken sie Kaffee miteinander, er und Havelack, der Mann mit dem schwarzen Humor. Und nun sollte der verloren sein, der auch?
Schlüter war vor dem großen Kanzleigebäude des Kollegen Dr. Spindelhirn angekommen. Er hatte es immer noch nicht renovieren lassen, dieser Geizkragen. Von den Fenstern blätterte die Farbe ab. Der musste doch Geld wie Heu haben! Ohne Kinder zudem. Jetzt, um 19 Uhr, war Hochbetrieb. Spindelhirn arbeitete immer bis mindestens um Mitternacht. Seine Angestellten hatte er in drei Schichten eingeteilt. Man konnte Beurkundungstermine abends um elf und sogar nachts um drei mit ihm vereinbaren. Zu entfernten Gerichten ließ er sich fahren, damit er unterwegs diktieren oder Schlaf nachholen konnte. Woher nahm dieser Mann, den keiner leiden konnte, die Kraft?
In der Pause hatten sich Christa und Peter Schlüter nach Havelack auf die Suche gemacht, zwischen den Stehtischen hindurch, an denen die Honoratioren der Stadt und des Landkreises Sekt tranken, plauderten und zu laut lachten; dort stand der glatte Oberkreisdirektor Dieken neben seiner gewagt dekolletierten Frau, sie zeigten ihre vom letzten Skiurlaub gebräunten Gesichter. In weniger als einem halben Jahr, am 1. April 1995, würde Diekens Amtszeit als Oberkreisdirektor zu Ende sein, und es hieß, er habe sich zu Höherem – vor
Weitere Kostenlose Bücher