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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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verkaufte, und ließen diese links liegen. Als sie in die Yahya Bey Cadde gelangt waren, versteckte Schlüter sich in einer der Seitengassen, während Clever als Vorhut das Gelände erkundete.

40.
    Vor einer Konditorei war er gelandet. Schlüter sah durch das Fenster.
    Ein junger Bursche stand an einem silbernen Kessel, der so groß wie ein Molkereifass war. Auf die obenauf drehende Backplatte spritzte er aus den feinen Düsen eines kleinen Apparats haardünne Teigfäden, die augenblicklich härteten zu zerbrechlichem Gespinst.
    Als der Mann den Fremden vor der Scheibe entdeckte, grinste er Schlüter aufmunternd zu und winkte ihn herein. Ergeben öffnete Schlüter die Tür und trat ein. Nach ein paar Sekunden drückte ihm ein mehlbestaubter Alter, der aus dem Dunkel des Raumes auftauchte, ein Glas Tee in die Hand und wies ihm den Zuckertopf auf der Fensterbank. Während Schlüter trank und der Produktion von Baklava zuguckte, warf er immer wieder unruhige Blicke nach draußen.

    Wo blieb Clever?
    Endlich, nach einer unendlichen Viertelstunde, tauchte dessen Gestalt, dünn, fast durchsichtig, vor dem Fenster auf wie ein Fisch im Aquarium. Schlüter hechtete zur Tür und riss sie auf. Clever grinste entspannt. Auch er wurde hereingebeten, ein zweiter Tee wurde serviert und Schlüters Tasse neu gefüllt. Erst als der Tee getrunken war, durften sie fort. In diesem Land konnte man nicht verdursten, jedenfalls bekam man stets Tee in Überschallgeschwindigkeit und an den unmöglichsten Orten. Vielleicht war das der Grund für die kleinen Gläschen: Man konnte sie überall und sofort servieren.
    Sie verabschiedeten sich wortreich und der junge und der alte Konditor standen vor ihrem Laden, lachten und winkten ihnen nach.
    »Was hast du rausgekriegt?«, fragte Schlüter atemlos.
    Aber Clever antwortete nicht, sondern bog ab in die Yahya Bey Cadde. Vor dem Möbelgeschäft, von dem Schlüter geflohen war, stand jetzt ein schnurrbärtiger Mann und wartete.

    »Das ist Kasım«, stellte Clever vor.
    »Kasım«, sagte Kasım ernst und streckte die Hand aus.
    »Peter«, sagte Schlüter und ergriff die Hand, eine warme, starke.
    Kasım ging voran in eine Art Büro, denn es gab einen verstaubten Schreibtisch, auf dem wüste Haufen Papier lagerten. Eine Minute später saßen sie auf einem zerschlissenen Sofa zwischen alten Fernsehern, vor einem kalten Kanonenofen, dessen Rohr durch eine Blechplatte im Fenster nach draußen führte, über ihnen eine nackte Glühbirne, die das Tageslicht ersetzte, jeder mit einem Teeglas, das ihnen Kasım in die Hand gedrückt hatte, bevor er ihnen gegenüber in einem schiefen Sessel Platz genommen hatte. Er hatte breite Hamsterbacken und deswegen ein dreieckiges Gesicht, seine Kopfhaut schimmerte durch dünne schwarze Haare, als wüssten die Haare nicht, wo sie zuerst mit der Glatze anfangen sollten. Er trug ein schmutziges Hemd über einem Speckbauch, rauchte und drückte seine Zigarette auf dem Ofen aus, auf dem die Teekannen standen, die kleine auf der großen.
    »Ich habe ihm erzählt, weshalb wir hier sind«, eröffnete Clever das Gespräch. »Man kann sich auf ihn verlassen.«
    Woher wollte der Mann das wissen? Konnte man einen Fremden allein nach seinem Händedruck beurteilen? Aber ob Misstrauen weiterhalf? Sie waren so verloren in diesem Land, in dem es allerorten Tee zu trinken gab, aber mit Misstrauen würden sie erst recht nichts herausbringen.
    Kasım nickte und lächelte. Alle lächelten hier.
    »Verlassen, ja«, bestätigte er. In Deutschland sei er gewesen, erzählte er. Deutschland gut, sehr gut. Die übliche Geschichte: Touristenvisum, Asylantrag, untergetaucht, Arbeit in Dönerbuden, Spielhallen, bei Gärtnern und Bauern und auf dem Bau, nach drei Jahren abgeschoben, Einreiseverbot. Er hatte genug Deutsch aufgeschnappt und war nach sechs Wochen Abschiebehaft und ohne einen Pfennig in der Tasche nach Sivas zurückgekehrt. Und dann hatte er diesen Laden aufgemacht.
    »Hier man kann nicht leben, weißt du«, sagte er und warf einen resignierten Blick auf die Eingeweide, die aus den aufgerissenen Rücken der toten Fernseher quollen, auf die Ersatzteile, die in Regalen ringsum auf Transplantation warteten.

    »Wo ist Gül?«, fragte Schlüter endlich.
    Kasım erklärte, dass Gül Mittagspause mache, er sei zur Moschee gegangen, zur Ulu Camii, es sei doch Freitag heute, er werde deshalb etwas länger wegbleiben als sonst, in knapp zwei Stunden werde er wiederkommen. Schlüter zog Christas

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