Paragraf 301
Alevitentum existiere gar nicht, behaupteten die Sunniten, das sei nur eine minderwertige Abart des rechten Glaubens, für Leute, die nicht so gern in die Moschee gingen und lieber ein bisschen tanzten, wenn sie sich träfen, und deshalb würden sie auch keine Moscheen brauchen und auch nichts anderes, denn ein anständiger Sunnit bete in der Moschee und seine Frau zu Hause.
»So ist das!«, sagte Kasım. Er hatte sich in Rage geredet und zündete sich eine neue Zigarette an, wobei er vergaß, den Besuchern auch welche anzubieten. »In der Religionsbehörde sitzt kein einziger Alevit! Sie versuchen, die Religion regelrecht auszutrocknen!«
Das Bodenpersonal Gottes, dachte Schlüter, das taugt im Westen nichts und im Osten ist es auch nicht besser.
Religionsfreiheit – die habe es in der Türkei seit den Zeiten des Hacı Bektas Veli nicht mehr gegeben, behauptete Kasım. Und am 2. Juli vor zwei Jahren, als die Aleviten endlich einmal auf sich und ihre Religion und Kultur aufmerksam machen wollten, da habe man sie verbrannt »wie die Hexen bei Ihnen im Mittelalter«.
»War Adem auch dabei?«, fragte Schlüter.
Kasım hob die Schultern. »Er war da. Viele waren da. Sehr viele. Aber ob er was gemacht hat …? Wir schweigen. Die Stadt ist vergiftet seit damals. Die Stadt war voll mit Gendarmerie und Militär. Und trotzdem haben sie nicht gerettet … Erst als alle tot waren, sind sie gekommen … Wir glauben, dass das Absicht gewesen ist. Es geschehen hier viele Dinge, über die nicht geredet wird. Alles hat zwei Gesichter. Was ist mit Adems Bruder – war der dabei?«
»Schließlich ist er verurteilt worden, hier in der Türkei«, antwortete Schlüter. »Aber ob er mit Feuer gelegt hat, das wissen wir nicht. Das ist es ja gerade, was wir rauskriegen wollen. Kann es sein, dass Emin Gül zu der Zeit, als es gebrannt hat, in einer Autowerkstatt gearbeitet hat, an der Ausfallstraße nach Erzincan?«
Kasım dachte nach. Schließlich nickte er. »Da gibt es Autowerkstatt. Ganz draußen. Ich kenne Besitzer. Er auch Alevi …«
Schlüter klatschte sich die Faust in die hohle Hand: »Wir müssen hin!«
»Ich hol den Wagen«, sagte Clever.
»Kannst du überhaupt fahren?«, fragte Schlüter. »Und wie findest du wieder her?«
Clever sah Schlüter beleidigt an und streckte die Hand aus. »Schlüssel«, sagte er.
Schlüter machte sich lang und grub in seiner Manteltasche, bis er den Schlüssel gefunden hatte.
Sie standen alle drei gleichzeitig auf.
Plötzlich knisterte es in der Luft und der gutturale Ruf zum Mittagsgebet erscholl, er hallte durch alle Gassen der Stadt, er rief die Sunniten zum Gebet und er erinnerte die Aleviten zum dritten Mal an diesem Tag daran, wer des einzigen Gottes und seines Propheten Diener und wer Ketzer war.
Draußen prüfte Schlüter seinen Schatten. Er war doppelt so lang wie er selbst. Oder etwas länger. Vielleicht.
41.
Kasım bestimmte, dass sie nicht mit Schlüters Leihwagen, sondern mit seinem Transporter fahren würden, so wahr er, Kasım, den Namen des 7. Imam trage.
»Wenn die Leute die 44 von Malatya sehen, werden sie misstrauisch«, erklärte er. »Außerdem können wir sofort losfahren. Vielleicht komme ich vor Adem wieder zurück.«
Sie folgten Kasım durch eine Lücke zwischen den Buden in den Hinterhof, in dem es außer tiefen Löchern im gelben Staub, schmutzigen Fassaden und aus rostigen Blechplatten und Folienresten gefertigten Schuppendächern und Verschlägen nichts zu sehen gab. Neben einem Berg zerschlagener Möbel, die offenbar als Feuerholz dienten, stand ein zerbeultes Gefährt mit Pritsche, eine Kreuzung zwischen Pick-up, Lastwagen und Traktor. Sie bestiegen das Fahrzeug, hockten zu dritt auf der Vorderbank, Schlüter in der Mitte. Jetzt fehlt nur noch die Thermoskanne, die Stullenschachtel und die Zeitung mit den nackten Frauen auf der Titelseite, dachte Schlüter.
Sie ruckelten los, das Fahrzeug hatte keinen Auspuff mehr, vielleicht hatte es nie einen gehabt, das Getriebe klöterte wie Steine in der Mischmaschine und ein Gespräch war nicht möglich.
Schlüter achtete nach kurzer Zeit nicht mehr auf den Weg, das überließ er Clever, der an seinem Kompass herumfummelte und verstohlene Blicke auf die kreisende Magnetnadel warf. Schlüter tastete nach dem Diktiergerät in der Manteltasche und spulte es zurück; er fühlte das Vibrieren des Geräts und den Anschlag des Bandes.
Zuerst rollten sie noch durch enge Gassen, kurvten zwischen Menschen, Mopeds
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