Paragraf 301
Uhr aus der Manteltasche. Selbst besaß er keine. Es war halb eins. Als er die Uhr zurückschob, klapperte sie am Diktiergerät, das er zusammen mit ein paar Kassetten in Hollenfleth eingesteckt hatte.
»Seit wann ist er hier?«, fragte Schlüter weiter.
»Seit zwei Jahren«, antwortete Kasım.
»Ich meine, jetzt. Seit wann ist er wieder zurück?«
»Von der Mittagspause?«
»Nein, seit wann ist er wieder hier, meine ich, hier in Sivas.«
»Von wo?«
»Na, von Deutschland.«
»Er war nicht weg.« Kasım schüttelte den Kopf, beugte sich vor, schenkte Tee nach und wiederholte: »Er war nicht weg.«
»Das kann nicht sein!«, rief Schlüter. »Er ist doch in Deutschland gewesen!«
»Er nicht. Sein Bruder Emin.«
Schlüter atmete tief durch und sah Clever mit offenem Mund an. »Ach du Scheiße!«, stieß Schlüter erleichtert aus. »Ich Idiot!«
»Sag ich doch«, sagte Clever.
»Adem sehr ähnlich«, erklärte Kasım. »Viele verwechseln.«
»Wir sind gekommen, um herauszukriegen, wo Emin Gül war, als die Sache mit dem Hotel Madımak passiert ist.«
Kasım schüttelte den Kopf, stand auf und stellte sich an das blinde Schaufenster vor dem Schreibtisch. Draußen trieben die Menschen umher wie in einem schwarz-weißen Stummfilm, der nachträglich mit Sonnengold koloriert worden war.
»Was wisst ihr davon?«, fragte er schließlich, ohne sich umzudrehen.
»Alles«, sagte Clever leise. »Die Morde und alles. Die ganze Scheiße von vorne bis hinten. Du kannst uns vertrauen. Wir sind Christen. Wir haben die Hexenverbrennungen hinter uns.«
Schlüter wollte die Sache mit den Christen richtigstellen und machte den Mund auf, aber Clever versetzte ihm einen leichten Schlag in die Seite und legte einen Finger an die Lippen.
Endlich kehrte Kasım zu seinem schiefen Sessel zurück. Er sagte immer noch nichts, sondern zog seine Zigaretten aus der Hemdtasche und bot den Fremden an. Beide griffen zu, ließen sich Feuer geben, inhalierten tief und husteten.
»Ich Alevi«, flüsterte Kasım, als die Zigaretten halb abgebrannt waren, und stieß sich seinen Zeigefinger vor die Brust.
»Adem weiß das nicht?«, fragte Schlüter.
Kasım schüttelte stumm den Kopf. Er erwürgte seine Zigarette auf dem Kanonenofen und schob die Leiche zu den anderen. »Wir sprechen nie über Religion. Keiner hier. In diesem Land kannst du nicht über Religion sprechen.«
Als wollte er die Gelegenheit nutzen, das endlich nachzuholen, fing Kasım an zu reden. In Sivas gebe es über siebzig Moscheen, erklärte er, wenn sie alle voll wären, könnten mindestens fünfzigtausend Männer gleichzeitig beten, so viele erwachsene Sunniten gäbe es in der Stadt überhaupt nicht, und die Aleviten, die immerhin die Hälfte der ungefähr zweihunderttausend Einwohner zählenden Stadt ausmachten, müssten mit einem einzigen Versammlungshaus auskommen, das schon überfüllt sei, wenn zweihundert Menschen zum Cem kämen, deshalb wollten sie schon lange ein neues bauen, aber die Stadt erteile ihnen keine Bauerlaubnis, staatliches Geld gebe es nicht dafür und selbst sammeln dürfe man auch keines, oder man müsse es auf staatliche Konten legen, wo die Inflation das Geld auffresse. Die Religionsbehörde, das Diyanet, mit ihren neunzigtausend Mitarbeitern ein Krake von Verwaltung, strecke ihre Tentakel bis in den letzten Winkel des Landes, bis in das einsamste Dorf im wilden Osten, sie bezahle die Reparatur jeder Moschee im Lande und im Ausland, sorge für die Ausbildung und das Gehalt der Imame und bestimme den Religionsunterricht noch der abgelegensten Dorfschule. Die Politik behaupte, Staat und Kirche seien getrennt, das Militär behaupte, es sei der Garant, dass dies immer so bliebe, aber in Wahrheit gebe es in der Türkei die sunnitische Staatsreligion und eine sunnitische Religionsdiktatur, der angebliche Laizismus des türkischen Staats sei eine Legende, die so oft wiederholt werde, dass sogar die Europäer daran glaubten. Das habe er gemerkt, als er in Deutschland gewesen sei.
Die Aleviten grenze man aus, indem man ihre Religion einfach zu einem Trachtenverein abwerte, es sei ihnen verboten, religiöse Vereine zu gründen, sie dürften sich nur in Kulturvereinen zusammenfinden, in deren Namen das Wort Alevit nicht vorzukommen habe, deshalb heiße der Verein in Sivas Pir Sultan Abdal, das sei ein Dichter gewesen, und man habe die Erlaubnis für den Verein nur deshalb bekommen, weil seine Gedichte auch bei den Sunniten sehr beliebt seien. Das
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