Paragraf 301
und den Auslagen der Geschäfte, Kasım ließ seine Hupe wütend tröten, als gäbe es noch nicht genug Lärm, aber bald fuhren sie auf breiter, löchriger, staubiger Piste mit Resten von Asphalt, hinter halbmeterhohen Bordsteinen grob verputzte Häuser mit flachen Dächern, über denen blaugraue Berge leuchteten, und dann gab es gar keine Häuser mehr, sondern nur noch die Schutthalden beiderseits der Straße. In der Ferne unter der friedlichen Sonne flimmerten die schneebedeckten Gipfel, hinter denen Dersim liegen musste, wo Krieg sein sollte.
»Da«, sagte Kasım und wies voraus.
Zwischen den Schutthalden kam etwas in Sicht, das sich im Näherkommen als Produkt menschlichen Überlebenswillens entpuppte, ein Haufen unregelmäßiger Gebäude, Garagen und Schuppen, zusammengeschustert in verschiedenen Zeitaltern und aus verschiedenen Materialien. Kasım fuhr auf Schotter an zwei rostigen Zapfsäulen vorbei und brachte sein Gefährt in einer Staubwolke vor einer mit Blechplatten bedeckten niedrigen Halle zum Stehen. Aus der dunklen Tiefe der Halle trat ein struppiger Mensch mit schwarzen Schmiedefäusten grinsend hervor und schüttelte Kasım, der schon ausgestiegen war, erfreut die Hand.
»Günaydın«, sagte der Mann. Er war sehr dunkel im Gesicht.
»Günaydın«, antwortete Clever und streckte seine Hand aus.
Auch Schlüter ließ es zu, dass seine weißen Finger in der schwarzen Faust des Autoschmiedes verschwanden, wartete auf den Schmerz, der aber nicht kam, und lächelte erleichtert.
»Alman?«, fragte der Mann gespannt.
»Evet«, nickte Clever.
»Almanya seeehr gut!«, lachte der Mann. »Çay?«
»Evet, sevinirim«, erwiderte Clever.
Schlüter staunte. Er wurde nicht gefragt. Er folgte den anderen ins Büro, einem Raum in dem flachen Gebäude hinter den Zapfsäulen, durch dessen Fenster man weder hinein- noch, wenn man drin war, hinaussehen konnte, geputzte Fenster gab es wohl nur in Deutschland, wo die Leute sich den ganzen Tag mit Nebensächlichkeiten beschäftigten. Der Raum war ebenso wie Kasıms Büro mit einem eisernen Kanonenofen und einem Sofa ausgestattet, außerdem mit vier metallenen Stühlen und einem Schreibtisch, auf dem sich das Telefon und die Kasse befanden. Es roch nach Tabakasche und Schmieröl.
Eine Minute später hatte jeder von ihnen ein Teeglas in der Hand und Kasım begann mit dem Schwarzen, dessen Namen Schlüter noch nicht wusste, leise auf Türkisch zu reden. Clever machte ein gespanntes Gesicht und Grimassen, als könne er etwas verstehen. Der Schwarze hörte Kasım aufmerksam zu, nickte ernst, dann schüttelte er wieder den Kopf und begann ebenfalls zu reden, mit einer leisen Stimme, die nicht zu seiner breitschultrigen Ringerfigur passte. Schlüter verstand »Gül« und »Adem« und »Emin«.
Draußen röhrte ein Motor, Reifen knirschten im Kies und an den Zapfsäulen hielt ein weißer Kombi, aus dem ein Mann im Geschäftsanzug stieg. Der Schwarze sprang auf und eilte, um den Kunden zu bedienen.
»Was hat er gesagt?«, fragte Schlüter.
»Er hat gesagt, dass …«
Weiter kam Kasım nicht, denn der Gastgeber riss die Tür auf, zischte etwas in den Raum und war wieder draußen.
Kasım war aufgespungen. »Schnell, verstecken!«, flüsterte er und stellte sich vor das schmutzige Fenster, die Arme vor der Brust verschränkt.
Clever hatte sich von seinem Stuhl geschlängelt und hockte mit spitz aufragenden Knien hinter dem Schreibtisch, er winkte Schlüter, ihm zu folgen, hüpfte wie eine Heuschrecke zu einer angelehnten Tür in der Rückwand des Raumes, schob sie auf und, nachdem Schlüter ihm schwerfällig auf allen vieren gefolgt war, hinter beiden wieder zu. Sie hielten den Atem an. Der Raum war pechdunkel bis auf das spärliche graue Licht, das durch den Türspalt drang. Es roch nach Gummi und Öl.
Sie hörten, wie vorn im Büro die Tür aufging und der Kunde sprach. Der Schwarze und Kasım antworteten ihm. Die Rede ging hin und her, kurze Sätze, der Schwarze brummte, dann hörten sie die Eingangstür, wie sie auf- und wieder zuging, das Schlagen der Wagentür, das Röhren des Motors und eine Sekunde später zog Kasım die Tür zu ihrem Versteck auf.
»Ihr könnt rauskommen«, sagte er. Seine Stimme zitterte.
Clever saß gemütlich im Schneidersitz wie am Nachtfeuer der Karawanserei, grinste siegerhaft und fuhr ohne Hilfe der Hände hoch, indem er seine eingeklappten Beine aufstellte wie der Sternsinger den Scherenstern.
»Wer war das?«, fragte Schlüter,
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