Paragraf 301
viel gelitten hast. Lange Jahre war ich überzeugt, richtig gehandelt zu haben, und als ich erkannt hatte, dass mein Tun falsch und selbstsüchtig war, war es zu spät. Ich werde bald sterben und ich bitte Dich um Verzeihung. Man macht viele Fehler im Leben, die meisten kann man nicht berichtigen. Dieser war mein schlimmster Fehler.
Wie Du vielleicht weißt, bin ich eine reiche Frau. Den Preis dafür hast Du bezahlt. Etwas von dem, was ich Dir genommen habe, will ich Dir jetzt zurückgeben.
Also: Dein Stiefvater ist seit fünf Jahren tot. Ich habe ihn allein beerbt und werde morgen den Heimatverein des Landkreises Hemmstedt als Alleinerben meines Nachlasses einsetzen. Ich werde den Heimatverein verpflichten, aus Schloss Lieth eine Kulturstätte zu machen. Die Kosten dafür wird der Landkreis Hemmstedt übernehmen. Ich werde einen Erbvertrag schließen, in dem das geregelt ist und Dir ein Vermächtnis von 100.000 DM zugesprochen wird. Der Landkreis wird glauben, man könne Dich mit dieser Summe endgültig abspeisen. Lass Dich unter keinen Umständen darauf ein! Gebe Dich damit nicht zufrieden!
Wenn Du diese Nachricht erhältst, werde ich längst unter der Erde sein und der Heimatverein wird das Erbe angetreten haben. Du bist mein einziger Sohn und hast deshalb einen Pflichtteilsanspruch gegen den Heimatverein. Der Landkreis muss dem Heimatverein alle Verpflichtungen aus dem Erbe abnehmen und auch diesen Anspruch erfüllen. Du hast ein Recht auf so viel Geld, wie es dem halben Wert meines Vermögens entspricht. Ich schätze mein Vermögen auf mindestens drei Millionen Mark. Bargeld ist nicht viel da, aber die Ländereien und Gebäude haben einen großen Wert, auch wenn sie praktisch nicht verkäuflich sind. Das ist der Grund, warum ich nicht Dich als Erben eingesetzt habe. Was solltest Du mit einem Erbe anfangen, das nur kostet, wenn gleichzeitig kein Bargeld vorhanden ist? Mit den riesigen Gebäuden, die Unsummen verschlingen? Deshalb hat Dein Pflichtteilsanspruch mehr Wert als das Erbe eines teuren Schlosses.
Ich bitte Dich: Suche mit diesem Brief den Rechtsanwalt Peter Schlüter in Hemmstedt auf. Du kennst ihn von damals. Zeige ihm diesen Brief, er wird dann das Richtige tun, damit Dein Anspruch erfüllt wird.
Ich habe alles veranlasst und sichergestellt, dass dieser Brief Dich erreicht, wenn ich mindestens vier Monate tot bin.
Ich bitte Dich noch einmal um Verzeihung. Lebe wohl, mein lieber Sohn.
In Liebe
Deine Mutter, Gräfin Sigunde von Thalheim
Angela las den Brief zweimal. So was! Ein schönes Mandat. Der Chef wird sich freuen.
Das Schloss kannte jeder im Landkreis. In der Zeitung hatte gestanden, dass daraus ein Kulturhaus entstehen solle. Im Kreistag hatte es Streit wegen der Betriebskosten gegeben, denn der Haushalt war stark verschuldet, schon für die laufenden notwendigen Ausgaben musste man Kredit aufnehmen und für freiwillige zusätzliche Aufgaben habe man erst recht kein Geld. Besonders die Grünen regten sich auf, sie behaupteten, der Betrieb des Schlosses als Kulturhaus würde jährlich eine halbe Million Zuschuss verschlingen. Der Rest des Kreistages hielt dagegen, die Grünen könnten nicht rechnen. Der Oberkreisdirektor rechtfertigte seine eigenmächtige Vorgehensweise, ohne Zustimmung, wenigstens Konsultation des Kreistages einen Erbvertrag abgeschlossen zu haben, damit, dass der unmittelbar bevorstehende Tod der Gräfin eine schnelle Entscheidung erfordert habe. Kunst und Kultur seien nun einmal nichts, womit man Geld verdienen könne, da müsse die öffentliche Hand einspringen, nur sein beherztes Handeln habe das Schloss, dieses einmalige Kulturdenkmal, für die Öffentlichkeit gerettet. Ein Bild von dem Oberkreisdirektor war auch in der Zeitung gewesen; darauf grinste er so breit wie ein Geldschrank.
Schließlich hatte man die vollendeten Tatsachen hingenommen.
Die Umbauarbeiten hatten bereits begonnen und im Herbst sollten die ersten Veranstaltungen stattfinden: Konzerte, Kunstausstellungen, Lesungen. Vielleicht, überlegte Angela, würde sie einmal hingehen. Die Möbel waren ja weg, die Grünen im Kreistag hatten zwar eine Anfrage gestellt, wo sie geblieben seien, und zweifelten an dem Wasserschaden im Keller des Schlosses ebenso wie an der Behauptung des Oberkreisdirektors, die Möbel hätten auf der Mülldeponie des Landkreises entsorgt werden müssen. Bei ihren Recherchen förderten die Grünen auch einen Vertrag zutage. Die Firma Madaus & Sohn hatte die
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