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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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kriegt man das eine oder andere eben mit.«
    Sie fuhren durch die Steppe, die kahl und menschenleer war. Manchmal begegnete ihnen ein Lastwagen mit hochgetürmter Ladung, der, wer weiß, aus dem Iran kam, wohin die Straße geradewegs führte, oder aus Aserbaidschan, wenn er über Horasan von Nordosten kam, und eine Wolke von Staub und Steinen hinter sich aufwirbelte.
    Die wenigen Dörfer lagen abseits der Straße: Hafik, Zara, Imranlı hießen sie. Graue Häuser, staubige Lehmwege, die dorthin führten, und immer wieder die goldenen, silbernen, grünkupfernen Dächer der Moscheen, die auch zwischen den ärmsten Hütten noch prächtig waren.
    Clever meinte, es sei Zeit zu essen, er habe grausamen Hunger, das türkische Frühstück sei nichts für ihn. Er wollte wenigstens einen Kaffee kochen, aber bevor er Ernst machen konnte, bog Schlüter nach Refahiye ab und sie hielten vor einer heruntergekommenen Fassade, an der man die Inschrift lokanta mit Mühe lesen konnte. Sie stiegen eine schiefe Betontreppe hoch, zogen eine quietschende Eisentür auf und traten ein. Sie waren die einzigen Gäste in einem großen Raum. An der scheckigen Wand hing ein Fernseher, in dem ein Unterhaltungsprogramm mit türkischer Folklore lief. Schnurrbärtige Männer mit breiten Schärpen hockten auf dem Boden und schlugen einen ewigen Rhythmus auf Trommeln, begleitet von quäkenden Tröten und leierndem Gesang, die Musik war Schlüter so fremd wie chinesische Opern. Nomaden, die das Land gerade erobert hatten, feierten ihren Sieg.
    Ein weißhaariger Alter kam gebeugt angeschlurft, begrüßte sie mit einem Lächeln und fasste Schlüter unter den Arm, führte ihn mit Trippelschrittchen durch eine Tür in die Küche zu zwei großen Kesseln, in denen das Essen kochte; eine schwarz verhüllte Matrone rührte darin, ohne aufzusehen. Sie entschieden sich für den Eintopf mit Hühnerfleisch, Tomaten und Auberginen, den ihnen ein ebenso alter Gehilfe mit Salat, Fladenbrot und einem Glas Wasser servierte. Der Alte ging am Stock und servierte nur mit einer Hand. Wo waren die jungen Leute?
    Nach dem unvermeidlichen Tee brachen sie auf. Sie waren über zweihundert Kilometer gefahren und hatten keinen Baum und keinen Strauch gesehen und nichts als braune Steppe mit verdorrtem Wintergras und Berge mit Schnee. Dann kamen sie nach Erzincan. Die Straße führte vierspurig durch die Peripherie der Stadt. Der Ruf zum Mittagsgebet wehte zerrissen zum Fenster herein. Sie hielten sich nicht auf, der Tank war noch drei viertel voll.
    Die Straße trug jetzt die Nummer 100. Sie würde noch gut vierhundert Kilometer weiter bis zur Grenze in den Iran führen. Sie waren am Fuß der weißen Gipfel des Munzurgebirges angelangt, die nach der Karte über dreitausend Meter hoch waren. Der letzte Ort vor der Abzweigung nach Tunceli hieß Pasinler. Neben der Straße flossen die grauen Wasser des Flusses Karasu in einem großen Bogen westlich um das Munzurgebirge und hinunter zum Euphrat. Bisher hatten sie noch kein Militär gesehen.
    Doch das änderte sich, als sie abgebogen waren und auf der schmalen Brücke über den Fluss fuhren.
    Soldaten. Der Krieg begann.

43.
    Hinter der Brücke versperrten Betonklötze in Sofagröße die Fahrbahn. Man musste sie im Slalom umfahren, im ersten Gang. Rechts ein Schilderhaus, mit einer Veranda aus Betonelementen in Tarnfarbe. Ein Soldat löste sich aus dem Schatten und vier andere marschierten aus dem Haus. Alle fünf steckten in Tarnuniformen, trugen einen Helm und hatten die rechte Hand am Abzug einer Maschinenpistole. Der, der an der Wand gelehnt hatte, wies Schlüter an, den Wagen auf den freien Platz vor die Kontrollstation zu fahren. Die Soldaten umstellten das Auto.
    »Hände auf das Lenkrad«, zischte Clever. »Und da lassen.«

    Schlüter umklammerte das Lenkrad. In schwierigen Situationen war Clever der Chef.
    Der, der an der Wand gelehnt hatte, musterte Schlüter aus einem mageren Jungengesicht. Der Kerl war bestimmt noch keine zwanzig. Und hatte schon so viel zu sagen.
    »Come out«, hörte Schlüter durch die offene Scheibe. Der Jüngling winkte mit der freien Hand.
    »Both?«
    »Yes.«
    »Du sollst auch aussteigen«, gab Schlüter den Befehl weiter.

    Beide krabbelten sie, ohne die Hände zu senken, aus dem Wagen.
    »Follow«, sagte der Soldat.
    Sie gehorchten. Im Schilderhaus gab nur einen Raum, in dem ein Schreibtisch, drei Stühle und ein Kanonenofen standen. Der Jüngling setzte sich auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch,

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