Paragraf 301
ins Dersim fährt.«
»Tunceli!«
»Ja, ja!«
»Ja, ja heißt: Leck mich am Arsch!«
»Ja, ja!! Fängst du jetzt auch an, mir meine Gedanken zu verbieten? Ein bisschen Freiheit darf ja wohl noch sein, oder?!«
Dieser Paul Clever war ein renitenter Bursche. Aber vielleicht verstand er von Freiheit mehr als andere, die niemals unfrei gewesen waren. Vielleicht verlernt man in gemütlichen Zeiten die Fähigkeit zum Widerstand, man musste üben, damit der Muskel der Freiheit nicht schlaff wurde und das gerade Kreuz krumm. Und das war vielleicht der Grund, warum die Menschen immer wieder von vorn anfingen. Schlüter musste sich auf den Gebirgsweg konzentrieren. Ein steiler Weg, der über die schneebedeckte Brustwehr des Munzurgebirges führte, hinein in das Land der Gipfel. Ein schmaler Schotterweg, den die Schneeschmelze ruiniert hatte. Er wich tiefen Löchern aus. Aus den verletzten Flanken des Berges auf der linken Seite war das Geröll auf die Straße gestürzt, hatte manchmal kaum eine Autobreite frei gelassen, und rechts war die Kante am Abgrund zerrissen und ausgewaschen. Der Wagen durfte ihr nicht zu nahe kommen, sonst würden sie abstürzen, so wie der Lastwagen da unten, der wie ein Käfer auf dem Rücken lag.
Oben, am Ende einer langen Steigung, stand ein Panzer und zielte mit seinem langen Rohr auf sie, und daneben ein Bewaffneter, der rauchte. Über beiden, im unerträglich friedlichen blauen Himmel, zog ein großer Vogel unangefochten seine majestätischen Kreise. Ein Adler auf Jagd. Oder gab es hier etwa Geier?
44.
Die Nacht hatte den Tag in den Abgrund gestoßen.
Die Soldaten harrten in ihren Unterständen aus und horchten in die Dunkelheit, die PKK-Kämpfer verließen ihre Tagesverstecke und schlichen sich an. Es war noch gefährlicher geworden für sie, seit die Wälder niedergebrannt worden waren, denn die wenigen Höhlen und Spalten waren dem Feind bekannt. Nur die Dunkelheit beschützte sie. So war das hier. So hatte Besê Adaman berichtet.
Keine Träne aus ihren Augen. Eine harte Frau mit tiefen Falten im Gesicht, sie war Mitte vierzig und sah aus wie eine alte Frau. Nur ein kurzes Lächeln, ein Funke in den Augen, als Schlüter von dem ersten Besuch ihres Mannes in seiner Kanzlei erzählte. Der erlosch, als er berichtete, wie er ihn das letzte Mal gesehen hatte.
Veli Adamans Testament, in diesem Buch hatte es gelegen, das aus Deutschland geschickt worden war, ein Buch, das weite Wege hinter sich hatte. Ein dünnes Blatt Papier hatte er beschrieben, einen Brief, den er gefaltet hinten in das Buch eingelegt hatte, gerichtet an den Rechtsanwalt Schlüter in Hemmstedt. Er hatte den Brief nicht mehr abschicken können, noch nicht einmal zu Ende geschrieben. Es wird Zeit, dachte Schlüter, wieder nach Hause zu kommen, um dort das Notwendige zu veranlassen, soweit man es nicht selbst tun konnte. Einen Augenblick glaubte er, er könne alle Probleme lösen, auch seine eigenen. Adamans Testament. Oder wie sollte man das nennen? Wer hätte das gedacht? Die Polizei hatte die Schrift nicht entdeckt; sie hatte das Buch den Vertretern der Hamburger Aleviten übergeben, die es, zusammen mit anderen Effekten des Toten, in die Türkei geschafft hatten.
Schlüter stand am offenen Fenster seines dunklen Zimmers im dritten Stock des Hotel Yüksel in der Stadt Tunceli und seine Gedanken fuhren Achterbahn. Die scharfe Nachtluft strömte herein, verdünnte den kalten Zigarettendunst und den süßlichen Gestank nach altem Urin, von dem das Zimmer erfüllt gewesen war. Schlüter atmete tief durch, froh, endlich einmal allein zu sein, aber zugleich war ihm düster und trüb vom Bericht der Witwe; es war zu viel. Was tut ein Mensch, der unter der Übermacht aus Gewalt, Unrecht und Verfolgung lebt? Er verzweifelt. Und dann? Dann flieht er. Oder es packt ihn die Wut und er kämpft, auch um den Preis des eigenen Todes. Und die anderen, die weder fliehen noch kämpfen, was tun die? Sie versinken in Depression. Die ernsten Gesichter der Menschen in der Stadt, ihr sinnloses Hin und Her, die Gruppen schwarz gekleideter Männer. Und was tut ein Mensch, der solche Berichte anhört? Mitleid? Das ist Hohn. Helfen? Das ist nicht möglich. Er wird stumm und möchte fort, zurück nach Hause, und vergessen. Schlüter wünschte sich eine Tasse Ostfriesentee und die Nähe seiner Frau. Er hatte sie noch nicht einmal angerufen, nur aus Malatya, von dem winzigen Flughafen aus, als sie heil angekommen waren am Mittwochabend. Mittwoch?
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